Frohe Ostern mit diesen Gratisaktionen

Zu Ostern habe ich ein kleines Geschenk für meine treuen Leserinnen und Leser.
Die drei besten und bekanntesten meiner Sozialdramen gibt es kurzzeitig in der Gratisaktion exklusiv bei Amazon.
DAS FLÜSTERN IM WIND erzählt die Geschichte der an multipler Persönlichkeitsstörung leidenden jungen Autistin Annika.
LILA UND AUS SEIDE – ENDSTATION HÖLLE ist die Geschichte über das drogenabhängige junge Liebespaar Leon und Noemi.
IM SCHATTEN DER DUNKELHEIT ist die Story über das aus einer gewalttätigen Familie geflohenen Heimkind Ellis Baxter.
DAS FLÜSTERN IM WIND hier:
LILA UND AUS SEIDE – ENDSTATION HÖLLE hier:
IM SCHATTEN DER DUNKELHEIT hier:

DAS FLÜSTERN IM WIND – die 3. Auflage ist jetzt da

Die 3. Auflage von meinem Sozialdrama DAS FLÜSTERN IM WIND – jetzt als E-Book und Taschenbuch. Inhaltlich überarbeitet, brandneues Cover.
E-Book (€ 3,99; KU gratis):
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Taschenbuch (Epubli; Softcover, 260 Seiten, € 10,99):
https://www.epubli.de/…/Das-Fl%C3%BCstern-im-Wind-Eli…/93913
Auch bei Amazon, Weltbild, Buch.de, Hugendubel etc. und überall, wo es Bücher gibt.

Sie kann nur hier leben. Sie hat nach uns gesucht. Es ist ihre ganz eigene Welt, und nur wir kennen diesen Ort.
Annika glaubt nicht an einen Ausweg. Zu viel Angst, Scham, Wut und Traurigkeit trägt sie in sich. Wir wissen von Annikas geheimen Ort, an den sie sich geflüchtet hat, denn wir sind ihre Freunde. Niemand kennt uns, außer sie. Niemand weiß, dass sie das Schlimmste erleben musste, außer wir. Annika schweigt. Aber wir sind ihre Stimme. Annika ist blind und taub. Aber wir sind ihre Augen und Ohren. Hab keine Angst, Annika…

Annika Mauren ist sehr still und zurückhaltend. Sowohl für die Eltern als auch ihr gesamtes Umfeld scheint das ein Rätsel zu sein, niemand kommt an sie heran. Einzig ihr imaginärer Freund Harry ist derjenige, zu dem sie Kontakt zu haben scheint. In ihrer Fantasie baut sich Annika eine Stadt in den Wolken, in die sie sich immer mehr zurückzieht. Dort lernt sie neue imaginäre Freunde kennen und fühlt sich verstanden und aufgehoben.
Als sie als junge Erwachsene Laurin und Jens kennen lernt, droht ihr Geheimnis aufzufliegen. Aber Annikas imaginäre Freunde wollen sie davor bewahren. Besonders Laurin gelingt es aber, das Vertrauen von Annika zu gewinnen, und aufgrund seiner eigenen Erfahrungen hat er auch bald eine Vermutung, was wirklich mit Annika los sein könnte…

DAS FLÜSTERN IM WIND ist ein packendes, mitreißendes Sozialdrama von Autor Elias J. Connor („Hinter unserem Horizont“), das die auf Tatsachen beruhende tragische Geschichte der an einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidenden Annika erzählt, die verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrem Trauma sucht. Authentisch, direkt und wahr.

BEGEGNUNGEN 2018 und DAS FLÜSTERN IM WIND jetzt in der Gratisaktion

Hagelschauer, kalt, Gewitter… momentan ist es eigentlich genau das richtige Wetter, um sich in die Decke einzumümmeln und zu lesen.
Von mir gibt es dieser Tage zwei E-Book-Aktionen. Vom 16. bis 20. März gibt es den Roman-Sammelband BEGEGNUNGEN 2018 und das kürzlich erschienene Drama DAS FLÜSTERN IM WIND in der Gratisaktion bei Amazon. KU selbstverständlich immer kostenlos.

BEGEGNINGEN 2018
https://www.amazon.de/dp/B07DMYR2PL
Begegnungen sind authentisch. Begegnungen sind wirklichkeitsnah. Sie verändern unser Leben, teilweise in eine Richtung, die wir uns in unseren schönsten Träumen nicht hätten vorstellen können, und die wir in unserer hoffnungslosesten Zeit gebraucht haben, genau in diesem Moment.
Wenn wir einem Menschen begegnen, verändert dies immer unser Leben. Ich, Elias J. Connor aka Joshua Kay Schaeffer, bin der Autor von Dramen und Sozialdramen, die diese Begegnungen beschreiben. Meine Romane aus den Genres Drama und Sozialdrama gehören zu meinen wichtigsten, erfolgreichsten und bekanntesten Büchern. Sie zu schreiben bewegte mich mehr als es bei anderen Büchern, die ich schrieb, der Fall war. So emotionsgeladen wie die Protagonisten waren und sind fühlte ich mich als Autor ebenso, und die Bücher sind die, die mir näher stehen als alle anderen in meiner Autorenarbeit.
In diesem Sammelband mit dem Titel BEGEGNUNGEN 2018 fasse ich die dramatischen Romane HINTER UNSEREM HORIZONT, LAURINAS GEHEIMNIS, IM SCHATTEN DER DUNKELHEIT und LILA UND AUS SEIDE: ENDSTATION HÖLLE für diejenigen zusammen, die nicht wegschauen wollen. In der Realitätsnähe scheue ich mich auch nicht davor, Tabu-Themen zur Sprache zu bringen, die uns alle angehen und viel zu sehr vor der Gesellschaft verschlossen werden.
Nein, eine Gesellschaft in der einfach alles stimmt – das sind wir nicht.
Ich möchte mit diesem Sammelband meiner vier Sozialdramen die Augen der Leser öffnen und hoffe, dass niemand wegschauen wird. Denn das, was hier passiert, geht uns alle an.
Ich möchte hier noch mal Danke sagen an all diejenigen, die mir bei der Recherchearbeit geholfen haben und mir ihre Erfahrungen schilderten und ihre Geschichten berichteten. Ich möchte Danke an die Menschen sagen, die mir den Mut gaben, auch eigene Erfahrungen in meine Geschichten einfließen zu lassen.
Hört nicht auf an die Hoffnung zu glauben. Das soll die Botschaft von BEGEGNUNGEN 2018 sein. Macht eure Augen auf und hört denen zu, die vielleicht nicht wissen, dass es euch gibt, und dass ihr ihre Begegnungen seid.

DAS FLSTERN IM WIND
https://www.amazon.de/dp/B07L7G2MWN
Sie kann nur hier leben. Sie hat nach uns gesucht. Es ist ihre ganz eigene Welt, und nur wir kennen diesen Ort.
Annika glaubt nicht an einen Ausweg. Zu viel Angst, Scham, Wut und Traurigkeit trägt sie in sich. Wir wissen von Annikas geheimen Ort, an den sie sich geflüchtet hat, denn wir sind ihre Freunde. Niemand kennt uns, außer sie. Niemand weiß, dass sie das Schlimmste erleben musste, außer wir. Annika schweigt. Aber wir sind ihre Stimme. Annika ist blind und taub. Aber wir sind ihre Augen und Ohren.
Hab keine Angst, Annika…
DAS FLÜSTERN IM WIND ist ein packendes, mitreißendes Sozialdrama von Autor Elias J. Connor („Hinter unserem Horizont“), das die auf Tatsachen beruhende tragische Geschichte der an einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidenden Annika erzählt, die verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrem Trauma sucht. Authentisch, direkt und wahr.

DAS FLÜSTERN IM WIND ist da!!!!!

+ + + N E U E R S C H E I N U N G + + +

Jetzt ist es soweit! Ein paar Tage früher als es geplant war erschien mein brandneues Sozialdrama DAS FLÜSTERN IM WIND. Jetzt ist es da. Und es ist als Autor eines meiner persönlichsten Bücher, die ich schrieb.
#DasFlüsternimWind #EliasConnor #Drama #Sozialdrama #Neuerscheinung

Das E-Book exklusiv bei Amazon (Gratisaktion vom 10.-14. Dezember statt 2,99 €; Kindle Unlimited immer gratis):
https://www.amazon.de/dp/B07L7G2MWN

Taschenbuch (236 Seiten, Softcover; € 9,99) z. B. bei Epubli:
https://www.epubli.de/…/Das-Fl%C3%BCstern-im-Wind-Eli…/81479

Hardcover (236 Seiten; € 20,99):
https://www.epubli.de/…/Das-Fl%C3%BCstern-im-Wind-Eli…/81481

Der neue Buchtrailer auf YouTube:
https://www.youtube.com/watch?v=IAPg2DLcJPA

Sie kann nur hier leben. Sie hat nach uns gesucht. Es ist ihre ganz eigene Welt, und nur wir kennen diesen Ort.
Annika glaubt nicht an einen Ausweg. Zu viel Angst, Scham, Wut und Traurigkeit trägt sie in sich. Wir wissen von Annikas geheimen Ort, an den sie sich geflüchtet hat, denn wir sind ihre Freunde. Niemand kennt uns, außer sie. Niemand weiß, dass sie das Schlimmste erleben musste, außer wir. Annika schweigt. Aber wir sind ihre Stimme. Annika ist blind und taub. Aber wir sind ihre Augen und Ohren.
Hab keine Angst, Annika…

DAS FLÜSTERN IM WIND ist ein packendes, mitreißendes Sozialdrama von Autor Elias J. Connor („Hinter unserem Horizont“), das die auf Tatsachen beruhende tragische Geschichte der an einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidenden Annika erzählt, die verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrem Trauma sucht. Authentisch, direkt und wahr.

DAS FLÜSTERN IM WIND – Kapitel 26: Weil wir deine Stimme hören

Das grelle Licht des Flurs leuchtete in einer Tour hell und farblos. Ab und an flackerte ganz hinten das letzte Licht etwas, aber die cleane Atmosphäre verbreitete sich hier unverändert und wurde dadurch nicht gestört.

Die junge Frau von Anfang 20 saß weinend auf der Bank vor einer weißen Zimmertüre. Unentwegt blickte sie darauf. All die anderen Türen sah sie nicht. Die Menschen, Pfleger und Ärzte, die hier ab und an vorbei kamen, nahm sie nicht wahr. Ihre zerzausten dunklen Haare waren Schweiß getränkt und hingen ihr ins Gesicht.

Es war still hier, sehr still. Und im Herzen dieser jungen Frau musste es noch stiller gewesen sein.

„Es geht ihm unverändert“, hörte sie einen Mann im weißen Kittel sagen, der plötzlich neben ihr saß. „Er liegt noch im Koma. Fahren Sie nach Hause, Hannah. Wir rufen Sie an, wenn wir Näheres wissen.

Hannah schüttelte ihren Kopf.

Durch ihr verweintes Gesicht nahm sie fast nichts wahr. Nicht mal mehr ihre Gedanken.

Sie war auf einmal wieder ein kleines Mädchen. Es war ein Abend vor Silvester, vor vielen, vielen Jahren. Der Tag, an dem sie Laurin, ihren Patenonkel und einzige Familie, kennen lernte.

Die ersten Worte über sie und ihn in seinem Tagebuch, welches er heimlich über die ganzen Jahre im Computer geschrieben hatte, kannte sie auswendig und sie fielen ihr jetzt wieder ein. So deutlich hörte sie sie. Fast so, als säße Laurin jetzt hier und las es ihr vor:

Plötzlich wurde ich von einem Schneeball getroffen, der mir direkt ins Gesicht flog und meine Haare nass machte. Auch das noch.

Während ich meine Frisur sortierte, noch immer nach der Klingel suchend, merkte ich auf einmal, dass mich etwas oder jemand am Arm anstupste.

„Tschuldigung“, hörte ich eine verhältnismäßig hohe Stimme.

Ich drehte mich um.

„Was suchst du?“, fragte das kleine Mädchen, während es mit den Augen zwinkerte und seine braunen, langen Haare, die es unter einer Wollmütze trug, zurecht schob.

„Ein Freund hat mich zu einer Familie in diesem Haus eingeladen, aber ich habe den Namen vergessen“, meinte ich zu ihr. „Weißt du, wo von denen die Klingel ist?“

Sie lachte nur.

„Wie heißt du?“, wollte sie dann wissen.

„Laurin“, antwortete ich.

Sie kniff ihre dunklen, großen Augen zu, um sie gleich danach wieder zu öffnen.

Dann lachte sie: „Haha… Laurin, das ist ein komischer Name.“

„Ist es nicht“, sagte ich, wobei ich mich anstrengte, dass es aussah, als machte ich nur Spaß. „Ist ein ganz normaler Name.“

„Nein, er ist komisch“, lächelte das Kind. „Heute heißt keiner mehr Laurin.“

„Weißt du denn jetzt, wo die Klingel von der Familie ist?“, hakte ich nach.

Sie bückte sich, nahm etwas Schnee und formte ihn zu einem Schneeball.

„Vielleicht“, sagte sie.

„Bitte“, meinte ich. „Kannst du es mir nicht einfach sagen?“

Dann lief sie einige Meter weit weg, zielte… und traf mich schon wieder. Der Schneeball zerschmetterte an meiner Jacke.

„He“, lachte ich.

„Schneeballschlacht!“, rief sie.

Ich hatte in diesem Moment, mitten im Spielen, vergessen, dass Rolf, der neue Kollege aus dieser Einrichtung, der mich hierher eingeladen hatte, wohl schon auf mich wartete und ich ihm gesagt hätte, ich wäre in fünf Minuten da.

Aber dieses Mädchen, wer immer sie war, ließ mich für kurze Zeit wieder an jemanden denken, an den ich lange nicht gedacht hatte. An eine Person, die ich lange nicht gesehen und eigentlich schon fast vergessen hatte. Eigentlich ließ sie mich nicht an diese Person denken, sondern an die Tochter, die ich mit ihr gehabt hätte.

Mathilda.

Für eine Sekunde, oder eigentlich für ein paar Sekunden – jedes Mal, wenn ich diesem fremden Mädchen in die Augen schaute und sie mich ansah, während wir gerade mitten in eine Schneeballschlacht vertieft waren – dachte ich an Mathilda.

Es könnte sogar passen. Mathilda hätte sicher wie ich braunes Haar gehabt. Das Haar von diesem Kind war auch sehr dunkel. Und wäre Mathilda zur Welt gekommen und hätte überlebt, und wäre sie vielleicht sieben oder acht Jahre früher zur Welt gekommen, könnte dieses Kind Mathilda sein.

Wieder traf mich ein Schneeball, den das Kind warf.

„Ich bin außer Puste, Mathilda“, sagte ich plötzlich. „Magst du mir jetzt sagen, wo die Klingel ist?“

Das Kind sah mich fragend an.

„Wer ist Mathilda?“, wollte sie wissen.

Und da zweifelte ich eine Sekunde lang, dass das jetzt gerade wirklich wäre. Irgendwie schien dieses Mädchen jemand Besonderes zu sein, so fühlte sich das für mich an. Aber vielleicht war es zu besonders, um wahr zu sein, und dann wäre dies alles gar nicht echt, und ich hatte nur wieder einen dieser Tagträume von Mathilda, von einer eigenen Familie, wie ich sie beinahe vor ein paar Jahren mal gehabt hätte.

Ich sah nachdenklich zu Boden. „Niemand“, log ich ernst. „Entschuldige.“

„Warum hast du mich Mathilda genannt?“, fragte das Mädchen.

„Wie heißt du denn stattdessen?“, lenkte ich von ihrer Frage ab.

Sie reckte ihre arme in die Höhe. „Hannah“, sagte sie lächelnd. „Ich bin neun Jahre alt. Wie alt bist du?“

„27 Jahre“, antwortete ich ihr sehr langsam. „Sagst du mir jetzt bitte, wo diese Klingel ist, die ich suche?“

Hannah sah plötzlich traurig zu Boden.

„Was ist?“, fragte ich sie gleich, als es mir auffiel.

„Ich will nicht da rauf“, flüsterte sie dann.

Eben war sie noch so ausgelassen und spielte, und jetzt war sie auf einmal so traurig. Armes Kind, dachte ich bei mir, es musste sie richtig etwas bedrücken.

„Hannah… kennst du die Familie zu der ich soll?“, wollte ich dann von ihr wissen.

„Sie haben gesagt, heute kommt ein Fremder zu uns. Du kennst Rolf, nicht wahr?“, fragte sie.

Ich nickte.

„Seine Freundin Larissa ist meine Mutter“, erklärte sie dann. „Sie hat dich eingeladen, glaube ich.“

Ich sah sie an und hörte ihr zu.

„Können wir uns eine Weile im Keller verstecken?“, meinte sie dann, und ohne eine Antwort abzuwarten, zog sie mich am Ärmel und schleppte mich in den Hausflur der offenen Türe und schleifte mich dann die Treppe hinunter zum Flur, der zu den Kellerräumen führte. In einer Ecke des dreckigen Raums blieb sie dann stehen.

„Ist alles okay?“, sagte ich zu ihr.

Sie sah nur stumm auf den Boden.

„Du hast doch etwas“, stellte ich fest.

„Weißt du…“, sagte sie dann nachdenklich. „Du könntest mein Papa sein.“

Ich lächelte sie nur an. Das war das absolut schönste Kompliment, was ich seit Langem gehört hatte.

„Dann hätte ich schon drei Väter“, warf sie nach.

Ich sah fragend in ihre Augen, die ich bei der Dunkelheit kaum erkennen konnte.

„Carl – den Ab-und-zu-Freund meiner Mutter – dann Rolf, und dich.“

„Ich wäre sehr gerne dein Papa“, sagte ich leise, womit ich sie zu beruhigen versuchte, denn ich spürte, wie aufgebracht sie zu sein schien.

„Wenn du dich mit Mama anfreundest, dann schmeißt sie dich irgendwann weg. Macht sie mit allen Männern, die sie hat. Sie weiß das nicht, aber ich kriege das mit.“

Hannah schluchzte und wischte sich eine Träne aus den Augen.

Dann streichelte ich ihr über den Kopf.

„Hab’ keine Angst, Hannah“, sagte ich ruhig. „Ich gehe nicht weg. Wir können ruhig hoch gehen, ich passe auf dich auf.“

Ich konnte selbst fast nicht glauben, dass ich das sagte. Dass ich das sagen durfte, und dieses kleine, schüchterne Wesen mir auch glaubte.

„Sind wir Freunde?“, hauchte sie dann leise.

Ich nickte.

Ich merkte es irgendwie. Ich spürte, dass sich mein Leben auf einmal entscheidend verändern würde, hier und heute. Es war so, als hätte man nie ein Ziel gehabt, und plötzlich hatte man eins.

Hannah schniefte. Ihre Lippen bebten. Leeren Blickes sah sie immer wieder auf die weiße Türe, hier im Krankenhausflur.

Sie bemerkte nicht einmal die vier Personen, die langsam zu ihr kamen und sich zu ihr auf die Bank setzten. Der Mann mittleren Alters schaute sie traurig an. Die Frau, die etwa in seinem Alter war, hielt er fest im Arm.

Die andere blonde junge Frau von vielleicht 20 Jahren nahm Hannah zart in den Arm, während ein weiterer junger Mann mit dunklen Haaren und einer Brille sich neben sie setzte.

„Hannah?“, fragte die junge Frau daraufhin.

Hannah blickte auf.

„Wie geht es ihm?“, sagte die junge Frau mitfühlend und traurig.

„Laurin liegt noch immer im Koma“, stammelte Hannah.

„Es tut mir so Leid“, stotterte die junge Frau.

„Du bist Annika, richtig?“, hauchte Hannah.

Annika nickte. „Das sind meine Eltern.“

„Ich bin Jens“, stellte der andere junge Mann sich vor. „Ich bin ein Freund und Kollege von Laurin und Annika.“

„Sie haben mir gesagt, was geschehen ist“, weinte Hannah. „Annika, es ist so schrecklich, was du erleben musstest.“

„Es ist okay“, entgegnete Annika. „Es ist vorüber. Ich konnte allen sagen, wer es wirklich war.“

Annikas Vater sah bedauernd zu Boden. Er konnte nichts sagen. Auch wenn er nicht der Täter war, so schämte er sich vor Hannah.

Annikas Mutter flüsterte Annika etwas zu, aber Hannah hörte es nicht.

„Hannah, wir sind alle bei dir“, sagte Jens. „Annika ist hier. Laurin wird wieder gesund.“

Leise weinte er, aber außer Annika sah es niemand.

Und Annika hielt Jens‘ Hand ganz fest. Die andere Hand nahm schließlich Hannahs Hand, und sie trösteten sich gegenseitig.

Plötzlich hörten sie ein Rumoren aus dem Zimmer.

Hannah und Annika konnten vor Tränen kaum etwas sehen. Ein Arzt musste ins Zimmer von Laurin hinein gegangen sein. Sie hörten eine Herzmaschine, aber sie konnten nicht einordnen, ob der Klang rhythmisch oder durchgezogen war.

Plötzlich kam der Mann im weißen Kittel zu Annika und Hannah.

„Sie sind die Familie?“, sprach er die auf der Bank sitzenden Menschen an.

Hannah nickte. „Ich bin seine Patentochter. Annika und Jens sind seine Freunde.“

Auf einmal huschte ein Lächeln über die Lippen des Arztes.

„Nun, ihr Onkel ist gerade aufgewacht“, sagte der Mann im Kittel. „Er ist noch sehr schwach, aber wenn Sie möchten, können Sie beide zu ihm.“

Er machte eine Geste zu Hannah und Annika.

Annikas Herz raste. Genauso das von Hannah. Und beide wünschten sich in dieser Sekunde, dass Laurins Herz genau so rasen mochte.

Der karge Raum blitzte. Die Sonne schien leicht in das Zimmer herein. Der Rollladen war halb oben.

Laurins Augen blickten Hannah direkt ins Gesicht.

„Laurin“, flüsterte Hannah leise.

Die Maschine neben ihm machte rhythmische Geräusche. Das Piepen war gleichmäßig und langsam.

Laurin sah schließlich Annika. Als er sie sah, lächelte er sie zaghaft an.

„Du musst nicht sprechen, Laurin“, sagte Annika.

„Laurin“; stammelte Hannah. „Ich bin so froh, dass du aufgewacht bist.“

Zärtlich strich sie über seinen Arm.

„Meine beiden Besten“, stotterte Laurin leise.

Hannah und Annika weinten ein paar Tränen.

„Es ist alles überstanden“, flüsterte Annika.

Laurin nickte fast unmerklich.

„Ich weiß“, sagte er fast tonlos. „Ich wusste, dass wir es schaffen.“

„Ich bin so froh, dass du Annika nicht alleine gelassen hast, Laurin“, sagte Hannah leise. „Wir beide brauchen dich. Und das werden wir immer.“

Laurin drückte die Hände von Hannah und Annika fester.

Und sie spürten das Leben in ihm. Mehr denn je glaubten sie jetzt daran, besonders Annika. Mehr denn je glaubte sie jetzt, dass sie wirklich aus ihrer schlimmen, traurigen Zeit heraus gekommen war und sie endlich, endlich hinter sich lassen konnte.

Ja, es war überstanden.

Annika schien sich seitdem immer mehr auf dem Wege der Besserung zu finden. Ihr Selbstgespräche schienen immer mehr aufgehört zu haben, und fast konnte man, wenn man sie jetzt erst kennen lernen mochte, nichts mehr von ihrem Autismus, ihrer Persönlichkeitsspaltung oder ihrem dramatischen, traurigen Leben sehen.

Annikas imaginäre Freunde Harry, Jane, Jana und Lena waren lange schon nicht mehr da. Sie ließen Annika ihr kommendes Leben leben – selbstbewusst, nicht blind, nicht taub, nicht stumm.

Annika war nicht mehr blind, denn sie konnte sehen.

Annika war nicht mehr taub, denn sie konnte hören.

Annika war nicht mehr stumm. Denn sie konnte sprechen. Und sie erzählte denjenigen, die sie danach fragten, auch ab und zu ihre Geschichte. Aber es tat ihr nicht mehr Weh, denn sie wusste, dass sie es überlebt hatte und niemand ihr mehr etwas anhaben konnte.

Annika war jetzt stark. Frei von ihrer düsteren, dunklen Vergangenheit. Annika hatte niemals Schuld, und Dank Laurin, Jens und Hannah wusste sie es.

Niemand könnte sie je wieder so sehr verletzen wie sie damals verletzt wurde. Das wusste sie, und das würde sie immer wissen.

„Annika, du musst nach Hause.“

Annika lächelte, als sie die Stimme zum aller letzten Mal hörte.

„Ich bin zu Hause, Jana“, flüsterte sie. „Ich bin schon zu Hause.“

DAS FLÜSTERN IM WIND – Kapitel 25: Der Stein des alten Hauses

Es war noch dunkel an diesem frühen Morgen, aber das war Annika und Laurin egal. Sie wollten einfach nicht nach Hause. Während der ganzen Nacht saßen sie jetzt schon draußen auf der Bank am Spielplatz, den Annika bereits aus ihrer frühen Kindheit kannte.

Keiner sagte ein Wort. Sie waren einfach still. Ab und an hielten sie sich freundschaftlich an den Händen, tief vertraut wie es richtige Freunde waren. Annika und Laurin hatten jetzt, in diesen Stunden, mehr denn je das Gefühl, dass sie sich ganz innig kannten und jeder von jedem alles wusste. Und es konnte ihnen nichts. Nichts und niemand konnte weder Annika noch Laurin etwas anhaben.

„Sollen wir ein bisschen laufen?“, fragte Laurin schließlich, während die ersten Sonnenstrahlen den Himmel berührten.

Annika nickte.

Bis zur Stadt war es nicht weit. Annika und Laurin mussten durch das Dorf hindurch laufen, um dann auf die Bundesstraße abzubiegen. Nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch sollten dann die ersten Ausläufer der nahe gelegenen Großstadt beginnen. Laurin wusste noch nicht, ob Annika so weit laufen wollte, aber er lief mit ihr einfach los. Sie könnten sich ja in den nächsten Bus setzen und zurück fahren, wenn es nicht ginge.

Gedanken verloren schlenderten sie die Häuserreihe vom Block ab.

„Annika?“

„Ja, Laurin?“

Laurin blickte zu ihr. „Wie geht es dir jetzt?“

Annika lächelte ein wenig. Vermutlich war es das erste Lächeln seit wer weiß wann.

„Es geht so einiger Maßen“, sagte sie ihm.

„Ich muss nicht denken“, sagte Laurin fast tonlos.

„Was meinst du?“, fragte sie.

„Fühlt es sich für dich genauso an? Es muss einfach nichts im Kopf sein. Keine Gedanken, keine…“

Aber dann wurden Annika und Laurin plötzlich von der Stimme eines jungen Mannes unterbrochen, der im morgendlichen Licht auf einmal hinter ihnen stand.

„Annika“, sagte er, während er Annikas Schulter berührte.

Ruckartig drehte sie sich um – und da stand er wirklich. Wie sehr hatte sie es sich gewünscht, die ganze Zeit. Wie sehr er das war, was sie eigentlich von ihren negativen Gedanken an ihre schwere Kindheit ablenkte. Und jetzt war er da. Zitternd blickte er ihr in die Augen. Seine Lippen bebten.

„Sie haben gesagt, du könntest dir etwas angetan haben“, hauchte er. „Alle suchen dich.“

Jens.

Annika lächelte ihn sachte an.

„Es ist alles okay, Jens“, gab sie ihm zu verstehen.

„Das tut mir Leid“, warf Laurin sofort ein. „Ich habe Bescheid sagen wollen, aber Annika und ich waren sich nicht sicher, wie ihre Mutter reagiert.“

Sofort nahm Jens das Telefon aus seiner Tasche und rief Annikas Mutter an. Er teilte ihr mit, dass er diese Nacht mit ihr unterwegs war. Er unterrichtete sie, dass sie am Spielplatz auf der Bank waren und es Annika verhältnismäßig gut ging. Annikas Mutter war froh darüber und bat Laurin, Annika sobald sie möchte nach Hause zu bringen. Ihr Vater sei nicht mehr da, versicherte sie ihm.

Während Laurin nicht wusste, ob er Annikas Mutter trauen konnte, versprach er ihr, auf Annika aufzupassen, bis sie wieder zu Hause war.

„Annika“, sagte Jens. „Es tut mir so Leid was du durchgemacht hast“, sagte Jens.

Annika sah ihn verwundert an.

„Wie kannst du es wissen?“, traute sie sich schließlich zu sagen.

„Deine Mutter hat es mir gesagt“, meinte er. „Ich habe mir große Sorgen gemacht. Vor allem, weil du…“ Er sprach nicht weiter.

„Jens“, hauchte Annika. „Weißt du, dass ich einen Traum habe, der mir in den letzten Jahren so geholfen hatte?“

Jens nickte.

„Dieser Traum hatte mit dir zu tun“, flüsterte Annika fast unhörbar.

„Ich weiß“, sagte Jens leise.

Nein, Jens wollte ihr jetzt nicht sagen, dass er nicht ihr Freund werden konnte. Ein guter Freund und Kollege ja, aber IHR Freund konnte er nicht sein, da er ja eigentlich eine Freundin hatte und Annika nicht liebte wie sie ihn. Er wusste, dass einzig dieser Traum an Jens Annika aufrecht erhielt, und das konnte er ihr nicht nehmen. Das wollte er auch nicht.

Laurin zog an einer Weggabelung Jens kurz zur Seite.

„Sie liebt dich, Jens“, sagte er zu ihr. „Du hast sie, ohne dass du es wusstest, in der ganzen letzten Zeit über Wasser gehalten.“

„Sie tut mir endlos Leid“, sprach Jens.

„Aber du hast eine Freundin?“, wollte Laurin sicher gehen.

Jens schnaufte aus. „Wir streiten uns oft. Ich fühle mich in dieser Beziehung nicht mehr wohl.“

Laurin nickte.

„Jens, Annika macht sich große Hoffnungen.“

Jens sah zu ihr. Sie träumte gerade und hatte nicht mitbekommen, worüber Jens und Laurin sprachen. Still schaute sie Gedanken verloren in die wenigen Wolken am Himmel.

„Meint ihr, ich werde nie wieder nach Lost City zurück gehen?“

„Vielleicht musst du es nicht“; lächelte Jens sie an.

Annika blickte zu ihm.

„Vielleicht sollten wir uns bald mal lange zusammensetzen, und dann berichtest du mir mal die ganze Geschichte über Lost City“, sagte er zu ihr.

Zufrieden blickte Laurin die Beiden an.

Es wäre jetzt der richtige Moment gewesen, Annika und Jens alleine zu lassen, denn Laurin konnte spüren, dass etwas für Annika sehr, sehr Schönes sich nähern und vielleicht beginnen würde – eine tolle, neue Zeit, in der all ihre Wünsche endlich wahr werden würden.

Aber es kam anders.

Als sie am Ende der Straße, hinter dem Hügel, angelangt waren, stand auf einmal rechts von ihnen ein altes Haus. Das Gebäude mochte aus dem letzten oder vielleicht sogar vorletztem Jahrhundert gewesen sein.

Annika zuckte plötzlich zusammen und fiel auf ihre Knie.

Jens und Laurin hielten sie fest.

Annika reckte ihre Arme nach diesem Gebäude aus – und daraufhin schrie sie laut.

„Meine Schule“, rief sie.

Verwundert blickten Laurin und Jens, die Annika fest hielten, sich an.

„Meine alte Schule, früher als ich Kind war“, schrie Annika.

Sie weinte. Sie begann bitterlich zu weinen.

Plötzlich kam ein Mann mittleren Alters aus dem Schulgebäude heraus.

Annika hörte sofort auf zu schreien und versteckte sich hinter Jens und Laurin, die sie instinktiv schützten.

Annika hechelte und zitterte.

Diese Angst, diese Düsterheit, die sie plötzlich überfiel – Annika spürte sie wie an jenem Tag, als es zum ersten Mal geschah.

„Pelz“, stotterte Annika, augenblicklich keines Wortes mehr mächtig. „Erik Pelz…“

Der Mann kam zu Jens, Laurin und Annika herüber und lief auf sie zu…

„Annika Mauren?“, fragte er das Mädchen.

Annika nickte.

„Komm rein“, sagte er.

Ganz langsam stiefelte Annika dem Mann hinterher und setzte sich schließlich auf einen Stuhl gegenüber seines Schreibtischs.

„Nun, wie ich höre, bist du in der Klasse wieder abgedriftet?“, wollte er von ihr wissen.

Annika sah aus dem Fenster heraus.

„Du kannst mir alles sagen, Annika“, sprach der Mann. „Ich bin dein Vertrauenslehrer. Du kennst mich.“

Annika reagierte nicht.

„Okay, fangen wir anders an“, meinte der Lehrer. „Mein Name ist Erik Pelz. Ich bin Vertrauenslehrer an dieser Grundschule. Das bedeutet, wenn die Schüler Probleme haben – welche auch immer – können sie zu mir kommen, und ich versuche ihnen zu helfen. Verstehst du das, Annika?“

Annika atmete tief aus. Ihr Blick wandte sich vom Fenster weg und sie betrachtete die beiden großen Plakate, die gerahmt an der Wand hingen. Es waren Bilder von irgendeinem Künstler, der so malte wie ein Kind, aber diese Bilder schienen viel Wert zu sein. Eines der Bilder zeigte eine seltsame Insel am Meer, mit einem roten Strand. Annika fiel dieses Bild schon mehrmals auf, weil sie sich immer wunderte, warum der Sand rot war. Sand war doch normalerweise gelb oder weiß.

Annika dachte an den Sandkasten am Spielplatz. Sie liebte ihn. Sie war oft dort an dem verlassenen Ort, wo sie ganz für sich sein konnte. Würde sie sich nur genau jetzt dorthin träumen können.

Aber Herr Pelz holte sie aus ihren Gedanken.

„Annika, möchtest du mir etwas über deine Familie erzählen?“, fragte er mit einer ruhigen, tiefen und sonoren Stimme, die sehr vertrauenswürdig klang.

Annika sah den Mann an. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf den Schreibtisch.

„Wie verstehst du dich mit deinem Bruder?“, fragte Herr Pelz. „Ist er nett zu dir?“

Annika hechelte wie ein Hund. Eigentlich hätte sie reden können, aber irgendetwas schien sie zu blockieren.

„Es ist nicht schlimm, wenn du nicht sprechen möchtest“, sagte der Vertrauenslehrer. „Ich weiß ja, dass du es kannst.“

Annika betrachtete ihn zaghaft.

„Du kannst es doch, nicht wahr?“

Ganz vorsichtig und unmerklich nickte Annika. Aber der Lehrer hatte es gesehen und lächelte sie an.

„Es ist schon in Ordnung“, sagte er. „Annika, ich werde dir jetzt ein Blatt Papier geben. Wenn du möchtest, dann male etwas. Ganz gleich, was. Okay?“

Ohne eine Antwort des Mädchens abzuwarten, gab ihr der Lehrer ein Blatt und ein paar Buntstifte. Vorsichtig nahm Annika einen hellen Stift in die Hand.

Zuerst malte sie einige Linien. Anschließend einen Kreis mit zwei Strichen darunter. Mit viel Phantasie könnte dies ein Kopf sein.

Annika nahm sich schließlich den schwarzen Stift und malte dort, wo die Augen sein sollten, einen schwarzen Balken. Genau das Gleiche tat sie etwas weiter unten.

Aber in der nächsten Minute, kaum dass sie fertig zu sein schien, nahm sie das Papier, zerknüllte es und warf es auf den Boden.

„Möchtest du noch ein Blatt?“, wollte Herr Pelz wissen, ohne dass Annika merkte, dass ihm ihr Bild aufgefallen war.

Sie nickte vorsichtig, und der Lehrer gab ihr ein weiteres Blatt.

„Wiesel, Wiesel, komm heraus“, sang Annika ganz leise auf einmal, während sie einen gelben Stift nahm und ein paar Wolken malte. „Die Sonne geht unter, der Tag ist jetzt aus.“

Annika malte in die Wolken ein oder mehrere Häuser hinein. Sie malte Strichmännchen, die in, vor und neben den Häusern standen.

„Sie kommen mich eines Tages holen“, flüsterte sie.

Aber Herr Pelz hörte sie.

„Annika“, sagte er sehr leise. „Möchtest du mir verraten, wer dich holen kommt?“

Erschrocken sah Annika ihn an. Sie hatte wahrscheinlich nicht gedacht, dass er ihre Worte wahrgenommen hatte. Sie hatte doch extra ganz leise geredet. Warum musste er sie nur gehört haben? Sie konnte es ihm doch nicht sagen. Sie haben ihr doch gesagt, sie soll es niemandem sagen.

Annika zitterte.

Niemand sollte von Lost City erfahren. Keiner. Sie wollte es doch nicht sagen.

„Annika?“, fragte Herr Pelz nach Minuten. „Komm, zieh dich aus. Du weißt, wie es geht“, sagte er. „Es wird keiner erfahren. Es bleibt zwischen uns, okay?“

Herr Pelz hatte sich ebenfalls ausgezogen. Annika wusste nicht, ob er die ganze Zeit schon nichts an hatte, oder ob er sich eben erst ausgezogen hatte. Sie war nicht hier, sie bekam es nicht mit. Auch die rote Liege im Raum, die sie vorher nicht sah, bemerkte sie jetzt nicht. Dass sie sich darauf legte, nackt mit Herrn Pelz zusammen, spürte sie nicht.

Herr Pelz berührte sie überall. Annika ließ es über sich ergehen. Er tat ihr sehr Weh, aber Annika spürte die Schmerzen unterhalb ihres Bauches nicht, als er auf ihr lag und sie aufs Übelste missbrauchte.

Annika war nicht mehr hier. Sie hörte sein Stöhnen nicht. Ihre Augen und Ohren waren zu. Ihr Mund auch. Sie hörte auch ihr eigenes Stöhnen, die Hilferufe die sie aussandte und ihr Schreien nicht mehr.

Annika war alleine. Sie weinte wie niemals zuvor, aber das konnte niemand sehen, auch sie selbst nicht.

Auch als drei oder vier andere Kinder, die Annika kennen musste, nackt herein kamen und ein paar andere Männer auf einmal da waren, ebenfalls nackt, bekam Annika nichts mit.

Die ganze Schule musste es möglicherweise gewusst und unterstützt haben, was hier vor sich ging. Drei Kinder sind seinerzeit sogar gestorben während des über Jahre andauernden Missbrauchs, begangen durch Herrn Pelz und seine Freunde. Es war möglicherweise eine organisierte Sache, und keiner sah etwas oder sagte etwas.

Geschwiegen.

Diese verdammten Schweine hatten drei Kinder getötet, wer weiß wie viele missbraucht, und jeder hat weggesehen, selbst die Schuldirektion.

Jetzt war es Laurin klar. Er hörte Annika flüstern. Er hörte ihre Worte, als sie es ihm sagte.

Jetzt war es vorbei. Jetzt war es endlich zu Ende. Annika hatte es gesagt. Endlich konnte sie sagen, wer ihr das angetan hat. Endlich war es raus, wer sie so sehr geschändet und ihre arme Seele so zerstört hatte.

Jens und Laurin hielten Annika zitternd und gleichzeitig schützend fest.

„Pelz, du Schwein!“, schrie Laurin.

Jens hielt Annika fest im Arm.

Laurin stürmte auf Erik Pelz, den „Vertrauenslehrer“, zu und ging ihm an den Kragen. Mit Gewalt riss er ihn zu Boden.

Alles ging so schnell. Es ging so furchtbar schnell, das keiner reagieren konnte.

Wo Herr Pelz plötzlich das Messer her hatte, das wusste niemand. Aber er stach zu, und in der nächsten Sekunde lag Laurin blutüberströmt und regungslos am Boden.

Jens und Annika rannten. Sie liefen davon. Sie hatten keine Wahl, als davon zu laufen, und sie wussten, es war das, was Laurin sich gewünscht hätte. Nicht hier bleiben. Davon laufen in ein besseres Leben. Das sollten sie tun.

Polizeisirenen.

Ein Krankenwagen.

Im Morgenschein wurde Erik Pelz verhaftet. Auch etliche Andere Mitarbeiter, Lehrer und Ähnliche wurden verhaftet.

Sie transportierten Laurin in den Krankenwagen hinein und versuchten, ihn so schnell wie möglich zu versorgen.

Das war alles, was Annika noch sehen konnte, während sie und Jens davon liefen.

Als sie hinter dem Hügel ankamen, blieben sie stehen. Annika weinte. Jens nahm sie in den Arm und versuchte ihre Tränen zu trocknen.

„Annika?“

„Ich kann nichts sehen“, hauchte Annika.

„Sieh genauer hin. Siehst du die Wolken?“

„Lost City“, wisperte sie leise.

Jens sah sich um.

„Es ist mir eine große Ehre, dass ich deine Wolkenstadt kennen lernen darf“, sagte er daraufhin.

„Warum gibt es Lost City wieder?“, wollte Annika wissen.

Und plötzlich kam ein junger Mann, gutaussehend, mit dunklen Haaren und einer Brille auf der Nase in Annikas Wolkenzimmer und setzte sich auf das Bett.

„Harry?“, fragte Annika.

„Du musst nicht nach Hause, Annika“, flüsterte Harry. „Aber du darfst es. Es ist vorbei. Du hast es überstanden. Du hast es überlebt, und das weißt du.“

Annika nickte zaghaft.

„Laurin…“, wisperte sie.

„Er wird es schaffen“, versuchte Jens ihn zu trösten. Auch wenn er absolut nicht sicher war, ob Laurin die Attacke von Erik Pelz überlebt hatte. Auch wenn er glaubte, Laurin wäre vielleicht schon tot. Jens versuchte sie zu trösten und hielt Annika ganz fest im Arm.

Während Annika sich eine Träne aus den Augen wischte, streichelte Jens ihr über ihr dunkelblondes, langes Haar.

DAS FLÜSTERN IM WIND – Kapitel 24: Vater

Leise klopfte es an Annikas Wohnungstüre. Als weder Annika noch Laurin darauf reagierten, ging die offenbar unverschlossene Türe von außen auf, und eine Frau Mitte 40 betrat den Raum.

„Annika?“, fragte sie zaghaft.

Laurin gab der Frau, wahrscheinlich Annikas Mutter, mit einem Kopfnicken ein Zeichen, dass es ihr okay gehen mochte und sie zurecht kämen.

„Annika, deine Mutter ist gleich nebenan“, erklärte Laurin der jungen ängstlichen Frau. „Wenn du mit ihr reden möchtest, hole ich sie, okay?“

Annika schüttelte ihren Kopf.

Langsam lief sie zum Fenster, während Laurin auf ihrem Sofa sitzen blieb. Annika legte eine Hand auf die Scheibe und sah hinaus in den abendlichen Sonnenuntergang.

„Laurin“, flüsterte sie. „Was ist nur mit mir los?“

Laurin atmete tief aus.

„Du musst keine Angst mehr haben“, sagte er mitfühlend. „Alles wird gut.“

„Ich will, dass sie wieder kommen“, wisperte Annika. „Harry, Jane, Jana und Lena. Lena ist tot…“

„Sie sind alle weg“, wollte Laurin am Liebsten sagen.

Aber er blieb still. Er saß auf dem Sofa und sah Annika einfach an.

„Ich fühle mich so leer“, hauchte sie.

„Das ist am Anfang immer so“, bestätigte Laurin. „Es war bei mir auch so.“

Verwundert blickte Annika ihn an. „Du kennst es?“

„Ich habe es dir erzählt“, sprach Laurin ruhig. „Annika, ich habe genau so viel Schreckliches erfahren wie du. Genau die gleichen schrecklichen Dinge.“

„Du bist entkommen?“, fragte Annika leise.

Laurin nickte.

„Es war meine Patentochter Hannah, die es damals aus mir heraus bekommen hatte“, erzählte er. „Ich hatte mich so schuldig gefühlt. So sehr, dass ich sterben wollte. Aber Annika, wir sind nicht Schuld daran, dass es geschah. Du kannst nichts dafür, dass es dir passierte. Du warst viel zu jung und viel zu klein, dass du dich hättest wehren können, weißt du?“

Annika setzte sich zurück auf das Sofa und hörte Laurin zu.

„Wenn wir Kinder sind, sind wir ahnungslos, schwach und schutzbedürftig. Jeder Erwachsene muss das respektieren. Aber es gab Erwachsene, die haben das bei uns nicht respektiert“, sprach Laurin weiter. „Wir konnten uns doch nicht wehren. Wir waren alleine und konnten nichts tun. Sie haben es mit uns gemacht, ohne dass wir etwas dagegen hätten tun können.“ Laurin wischte sich eine Träne aus den Augen. „Annika… hat dir niemals jemand gesagt, dass du keine Schuld daran trägst?“

Annika weinte ein bisschen. „Harry“, flüsterte sie.

„Er war dein bester Freund“, hauchte Laurin.

„Ich vermisse ihn“, sagte Annika traurig.

„Wir haben jetzt uns“, sagte Laurin ruhig. „Natalie, meine imaginäre Freundin, ist ebenfalls gegangen, schon vor langer Zeit.“

„Laurin, schwörst du mir, dass wir für immer Freunde bleiben?“

„Ja“, sagte Laurin. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht.

Annika atmete heftig, als sie sich langsam an ihn lehnte.

„Laurin, ich glaube, ich weiß es.“

Laurin sah sie an.

„Ich glaube, ich kenne denjenigen, der das als Kind mit mir machte.“

Laurin legte eine Hand auf ihre Schulter, und Annika vergrub ihren Kopf in ihren Händen. Sie musste sich vor ihm nicht schämen, das wusste sie. Sie wollte aber dennoch, dass ihr niemand in die Augen sah, in diesem Moment wo sie sich erinnerte, in diesem Moment wo ihre Erinnerung so sehr da war, dass sie wusste wer sie in der Kindheit diesen schrecklichen Dingen ausgesetzt hatte. Sie wollte nicht, dass Laurin ihr in die Augen sieht, in diesem Moment wenn sie es ihm sagen würde.

Und sie wusste, wenn sie es jetzt sagen würde, war es ein für alle Mal vorbei. Annika hatte keine Angst mehr. Das musste sie nicht mehr. Seelenruhig hörte sie Laurins Atmen. Sie spürte seinen erwartungsvollen Blick, auch wenn sie ihn nicht ansah.

Plötzlich wurde die Türe aufgerissen.

„Sie verschwinden sofort“, hörten sie die Stimme eines Mannes. „Sie wissen, dass wir Sie nicht hier sehen wollen. Lassen Sie Annika in Ruhe.“

„Herr Mauren“, fluchte Laurin. „Sie missverstehen das. Ich bin hier, weil ich Annika helfen möchte. Annika und ich sind beste Freunde, weiter nichts.“

„Sie wollen mit meiner Tochter befreundet sein?“, fragte Herr Mauren aufgebracht. „Warum setzen sie sie dann solchen Emotionen aus? Wir haben Jahre lang dafür gearbeitet, dass Annika sich nicht an ihre Kindheit erinnern muss. Es ging ihr gut, solange sie eingeschlossen in ihre Welt war.“

„Ja“, sagte Laurin. „Alles schön unter den Tisch kehren. Das kenne ich.“ Er stand auf und stellte sich dem Vater gegenüber, während er seine Jacke schnappte. „Wissen Sie eigentlich, wie das ist, wenn man Schreckliches erlebt hat und das Jahre lang in sich hinein fressen muss? Wissen Sie, warum Annika so ist wie sie ist? Haben Sie ihr jemals gesagt, dass sie nichts dafür kann?“

Annika wollte Laurin zurückhalten, aber dieser stürmte auf den Vater zu.

„Sie können mich raus schmeißen, Herr Mauren“, sagte Laurin. „Aber das Vertrauen, welches Annika mir entgegen brachte, haben Sie sich nicht verdient.“

„Laurin, bitte“, sagte Annika leise.

„Was ist, Kind?“, sagte der Vater wutentbrannt zu seiner Tochter. „Willst du etwas sagen? Willst du etwas sagen?“

Annika blickte ihn ängstlich an.

Laurin schaute zitternd zu Annika.

„Annika“, wisperte er.

Annika begann zu weinen.

Der Vater stürmte auf sie zu und wollte sie festhalten.

Laurin ging dazwischen. Schützend warf er sich vor Annika und stieß ihren Vater weg.

„Sie?“, sagte er zu ihm. „Waren Sie es? Ihr eigener Vater?“ Laurin weinte.

Der Vater versuchte, Annika festzuhalten.

Laurin ließ ihn nicht zu ihr durch.

„Herr Mauren, ich werde jetzt ganz langsam mit Annika hinaus gehen. Wenn Ihnen Ihre Tochter jemals etwas bedeutet hatte, dann werden Sie uns jetzt zur Türe heraus gehen lassen, okay?“. Sagte er ruhig mit zitternder Stimme.

Herr Mauren sagte nichts.

Die Mutter kam herein und schlug beide Hände über den Kopf zusammen.

„Du?“, schrie sie ihren Mann an. „Du verfluchtes…“

Aber sie konnte nichts mehr sagen. Sie weinte nur.

Laurin und Annika verließen ganz langsam die Wohnung und liefen auf die Straße.

Die Mutter lief zurück in das Nachbarhaus, wo sie und Annikas Vater wohnten.

Der Vater ging aus Annikas Wohnung heraus und stand wenig später alleine auf der Straße.

Annika war sich nicht sicher, aber sie meinte, wenig später ein Polizeiauto gehört zu haben.

Laurin und Annika liefen auf einen Spielplatz in der Nähe des Hauses. Dort setzten sie sich auf eine Bank und hielten sich an den Händen. Ihr Atmen ging schwer, und sie zitterten. Nicht wegen der Kälte, sondern weil sie Angst hatten.

Vielleicht mussten sie das aber zum letzten Mal in ihrem Leben haben.

DAS FLÜSTERN IM WIND – Kapitel 23: Lena stirbt

Der dumpfe Donner hörte sich wie ein einzelner fester Schlag an. Er hallte durch die Dunkelheit und begrub alles unter sich, was nicht niet- und nagelfest war.

Im rhythmischen Sekundentakt erklang der dunkle Schlag wie das Hämmern einer riesigen Faust gegen eine noch größere Türe.

Das kleine blonde Mädchen stand halbnackt und frierend vor dem Tor. Apathisch, geistesabwesend und leer war ihr Blick. Ihr linker Arm war in die Höhe gestreckt und lehnte am riesigen Tor dieses seltsamen Gebäudes. Das Echo, welches ihre kleine Hand machte, als sie rhythmisch gegen das Tor schlug, hallte bald hundertmal mehr als der eigentliche Klang, den sie erzeugte.

Der Scheinwerfer war nicht besonders hell. Eigentlich fiel er nur deswegen auf, weil er flackerte. Würde er kontinuierlich leuchten, würde man ihn vielleicht fast nicht bemerken, hier in dieser verlassenen Einöde.

Außer einigen kleineren und größeren Gebäuden befand sich hier nichts, rein gar nichts. Und ohne dieses Flackern hätte man wahrscheinlich nicht mal diese Hallen erkannt. Die tiefe Dunkelheit ließ die schmutzigen Fassaden so unauffällig wirken, die meist aus Wellblech bestanden, ähnlich wie bei Fabrik- oder Lagerhäusern.

Nicht einmal ein Mädchen mit langen, blonden Haaren, das langsam durch die Wege zwischen den Gebäuden umher lief, sah man. Nur der Schein ihrer hellen Haare spiegelte ab und an das Flackern des Scheinwerfers wieder.

Als das Kind an einer seltsam gebauten Halle ankam, sah es hinauf. Das Gebäude bemerkte sie deswegen, weil es – anders als die anderen Häuser hier – nur aus drei Wänden bestand und nach einer Seite hin ganz offen war. Langsam lief das Mädchen in das Gebäude hinein und setzte sich auf den nassen, kalten Boden. Neben ihr entdeckte sie einen Sandhaufen. Als sie ihn sah, nahm sie eine Handvoll des dreckigen Sandes und ließ ihn sachte durch ihre Finger rieseln. Als sie damit fertig war, weil ihre Hände wieder leer waren, nahm sie erneut einen Haufen und begann von vorne, den Sand durch ihre Finger rieseln zu lassen.

Nach einer Weile hörte sie damit auf.

„Annika, du musst nach Hause“, hörte man eine Stimme.

Ein zweites Mädchen mit leerem und traurigen Blick kam zu dem einen Kind hinzu. Langsam setzte es sich. „Ich habe kein Zuhause mehr“, flüsterte sie tonlos.

Das andere Mädchen blickte zu ihr.

„Weißt du, was geschehen ist, Annika?“, fragte das mit dem Sand spielende Mädchen leise.

Annika blickte zu Boden. Sachte nickte sie.

„Wir haben alles verloren.“

„Ich weiß.“

Annika sah sich um. „Lena, wo sind wir?“

Lena schmiss den Rest des Sandes, den sie noch in der Hand hatte, auf die Erde und wischte ihre Hände an ihrer von Dreck durchzogenen Hose ab.

„Es ist egal, wo wir sind“, sagte sie. „Wir können nicht mehr zurück.“

„Zurück?“, fragte Annika. „Wohin – zurück?“

„In unser Leben.“

Annikas Herz raste.

„Sind wir tot?“, sprach sie nun das aus, was sie die ganze Zeit vermutet hatte.

Lena sagte nichts. Sie blickte leer in die Luft.

Das Licht des Scheinwerfers hörte auf zu flackern.

„Wir müssen Harry finden“, sprach Annika sanft. „Er kann uns helfen.“

„Annika… Harry lebt schon lange nicht mehr.“

„Dann suchen wir Jane oder Jana“, sagte Annika zitternd.

Als Lena darauf nicht reagierte, begann Annika zu weinen.

„Jane ist weg“, erklärte Lena traurig. „Niemand weiß, wo sie ist. Und Jana…“

„Was ist mit Jana?“

Lena zitterte. „Sie wissen es“, stotterte sie nur.

„Lena, wo ist Jana?“

Lena sah Annika verzweifelt an.

„Sie weiß, wer es getan hat“, hauchte Lena. „Jana weiß es. Deswegen durfte sie niemals reden.“

Annika stand auf.

„Nein“, stammelte sie. „Jana ist nicht tot.“

„Das ist sie auch nicht“, sagte Lena. „Aber wir können sie nicht mehr sehen. Wir kriegen keinen Kontakt mehr zu ihr. Sie weiß, wer es dir angetan hat, und sie wird es sagen.“

Annika weinte. „Das will ich nicht“, sagte sie. „Ich will nicht wissen, wer es war. Es hat schon so schrecklich, schrecklich Weh getan als ich heraus gefunden habe, dass es mir geschehen ist. Aber ich will nicht wissen, wer es war.“

Lena drehte sich von ihr weg. Annika sollte ihre Tränen nicht sehen.

„Warum weinst du, Lena?“, sagte Annika, die es dennoch bemerkte.

„Weil es Lost City nicht mehr gibt“, hauchte Lena. „Das Tor da draußen vor der riesigen Halle, vor dem du gestanden hast – es wäre der Eingang gewesen. Aber sie haben es für immer verschlossen. Unsere Wolkenstadt, Lost City, ist ausgelöscht.“

Annika zitterte.

„Das kann nicht sein“, stotterte sie. „Ich konnte immer dorthin fliehen. Und jetzt nicht mehr?“

„Annika, weißt du, warum du wieder ein Kind bist?“

Annika sah an sich herunter und schüttelte mit ihrem Kopf.

„Du bist 20 Jahre alt, Annika“, erklärte Lena ihr weinend. „Aber wir sind nicht mehr geschützt. Jana, Jane… alle sind weg. Sie können uns nicht mehr helfen. Wir sind so ungeschützt, wie wir damals waren, als es geschah.“

„Du warst auch dort?“, fragte Annika traurig.

Lena nickte.

Und auf einmal lief Annika auf Lena zu und hielt sie am Ärmel fest.

„Du warst dort und hast mir nicht geholfen?“

„Ich konnte nicht, Annika“, bekräftigte Lena. „Wenn ich es gekonnt hätte, dann hätte ich es getan. Aber ich war dort, damit du Angst bekommst.“

„Angst?“

„Die Angst konnte uns immer schützen“, sagte Lena leise, während Annika sie wieder los ließ. „Weil wir Angst hatten, wussten wir, dass es falsch war.“

„Dann wolltest du mich beschützen?“

Lena sah Annika traurig an. „Ja“, sagte sie. „Aber es hörte nicht auf. Das Erlebte kam zu einem Ende, aber die Gedanken daran, die schrecklichen Gefühle und die Wut und die Traurigkeit blieben.“ Lena wischte sich Tränen aus ihren Augen. „Die Erinnerung blieb. Wir wollten sie immer fern halten. Das haben wir auch immer gemacht.“

„Lena, warum bin ich wieder ein Kind?“

„Weil du wieder dort angekommen bist, wo es begann“, flüsterte Lena tief mitfühlend. „Am Anfang.“

„Nein“, weinte Annika. „Was ist geschehen?“

Lena vergrub ihren Kopf in ihre angewinkelten Knie.

„Ist es, weil ich es Finn erzählt habe?“, weinte Annika. „Ich weiß doch auch nicht, wie er es aus mir heraus bekommen hat.“

„Er hat es erzählt“, sagte Lena. „An diesem Tag, in dieser Stunde und in dieser Minute ist Lost City zerbrochen.“ Lena zeigte auf das Fabrikgelände. „Sieh es dir an. Sieh dir an, was aus Lost City geworden ist.“

„Lost City war eine Stadt in den Wolken“, stammelte Annika. „Das hier kann nicht Lost City sein.“

Lena legte ihre Hand auf Annikas Schulter. „Weißt du, was Lost City heißt? Es bedeutet: Verlorene Stadt.“ Sie machte mit ihren Fingern ein Viereck, so als würde sie filmen. „Das, was du hier siehst, ist das wahre Gesicht von Lost City. Eine verlorene Stadt für verlorene Seelen auf der Suche nach ihrer Endstation.“

„Lena… sind wir tot?“

Lena schüttelte ihren Kopf. „Du nicht“, sagte sie. „Du bist nur verloren.“

„Nein, das lasse ich nicht geschehen“, rief Annika plötzlich aus, als sie spürte, dass Lena damit meinte, dass sie – Lena – jedoch tot sei. „Du bist nicht tot. Wir gehen in die Stadt hinein und holen Harry, Jane und Jana zurück“, sagte sie energisch.

„Annika, das bringt nichts mehr“, sprach Lena.

„Doch“, beharrte Annika.

Sachte nahm sie Lena bei der Hand und lief mit ihr aus dieser nach einer Seite hin offenen Lagerhalle heraus. Sie liefen über den Platz auf den großen gepflasterten Weg, vorbei an zwei oder drei anderen Hallen bis sie schließlich an diesem seltsamen, riesigen Gebäude ankamen.

Während Lena sich die Augen zu hielt, sah Annika auf die Türe. Ein riesiger metallener Ring prangerte in der Mitte. Er sah auf den ersten Blick unscheinbar aus, aber als Annika merkte, dass die Wellblechverkleidung des Gebäudes noch unscheinbarer aussah, fasste sie langsam den Türknauf an. Er bewegte sich nicht.

„Wir kommen nicht mehr hinein“, sagte Lena zitternd. „Es ist zu spät.“

Annika schüttelte ihren Kopf heftig. „Nein, ist es nicht.“

Sie trat voller Wucht gegen die Türe – und dann geschah es plötzlich.

Die Türe fiel nach hinten um. Annika erblickte zuerst auf der anderen Seite eine tiefe Dunkelheit, aber sie traute sich trotzdem das, was niemand für möglich gehalten hätte.

Annika lief langsam in die Dunkelheit hinein.

Lena riss sich von ihrem Arm los. Oder sie wurde weggerissen, das konnte niemand genau sagen.

Annika machte einen Schritt zurück, als sie spürte, dass Lena nicht mehr an ihrer Hand war. Langsam drehte Annika sich um. Angsterfüllt sah sie in Lenas blaue Augen.

Lena schrie. Aber niemand konnte es hören.

Die dichte Glasplatte schob sich auf einmal wie von Geisterhand gesteuert zwischen Lena und Annika. Annika schrie, weinte und hämmerte mit ihren Fäusten dagegen.

Aber es war zu spät.

Die Geräusche, der Wind und das Rauschen der Nacht wurden leise. Plötzlich war alles still.

Annika sah hilflos auf Lena, die sich auf der anderen Seite der Glaswand befand. Sie zitterte und weinte, aber sie konnte nichts machen.

Die Dunkelheit hüllte Lena ein. Und als Annika für eine Sekunde lang die Hoffnung hatte, sie könnte diese mysteriöse undurchdringliche Glaswand zerbrechen, schien Lena immer durchsichtiger zu werden.

Annika nahm einen Finger. Sie schrieb etwas in das kondensierte Wasser auf dem Glas. Annika schrieb: „Kannst du malen?“

Lena legte ihre schwache Hand auf das Glas.

Annika legte ihre Hand dorthin, wo Lenas Hand auf der anderen Seite war.

Und dann starb Lena. Sie fiel zu Boden und schloss ihre Augen. Sie hörte auf zu atmen, und ihr Herz hörte auf zu schlagen.

Annika glaubte für einen Moment noch, dass sie Lenas letzte Herztöne gehört hätte, denn deren Echo drang durch die Stille. Aber nach einigen Minuten verstummte auch das.

Wie ein kleiner Engel lag Lena auf dem Boden, eingehüllt in ein weißes Kleid, so als würde sie schlafen.

Annika weinte. Sie weinte und konnte nicht aufhören.

Warum?

Warum musste Lena sterben? Sie war die letzte ihrer Freunde, die noch da war. Wen hatte Annika denn jetzt noch?

„Lena…“, rief sie.

Es war still. Annikas Schrei wurde von der Stille verschluckt.

Als sie ihre Augen kurz schloss und ihre Hände fest auf ihr tränenüberströmtes Gesicht legte, spürte sie auf einmal etwas an ihrer Schulter. Jemand berührte sie dort.

„Annika“, hörte sie ein Flüstern.

Vorsichtig sah Annika auf.

Laurin saß neben ihr auf ihrem Bett, in ihrem Zimmer in ihrer Wohnung. Er hielt sachte ihre Hand und blickte tief in ihre Augen.

„Laurin“, sagte sie verweint.

„Es wird alles gut, Annika“, sagte Laurin.

„Was ist geschehen?“, wollte Annika wissen, ohne mit dem Weinen aufzuhören.

„Ich habe das mit deiner Wolkenstadt gehört“, sagte Laurin ruhig. „Sie ist untergegangen. Es tut mir so Leid, Annika.“

Annika hielt seine Hand fest. Sie wusste nicht, warum, aber sie hielt Laurins Hand ganz fest.

Laurin strich ihr über ihre Finger. Ja, er war immer bemüht, Annikas Träume, Gedanken und Vorstellungen zu akzeptieren, zu erkennen und sie genau wie Annika für wahr zu befinden. Wenn Annika sagte, es gab eine Wolkenstadt Namens Lost City, in der ihr Ich lebte und wo alles aus Wolken war, dann war es so. Annika konnte sie sehen, also war sie echt.

„Ist Lena gegangen?“, sagte Laurin traurig.

Annika nickte.

Laurin sah sie einfach an. Er saß still neben ihr und sah sie an. Es gab oft schon diese Momente, wo sie nichts sagen mussten, diese Momente, in denen es einfach reichte, dass sie irgendwo nebeneinander saßen.

Dies war einer dieser Momente.

„Annika, hast du gehört, was er zu dir gesagt hat?“, sagte Laurin nach gefühlten Minuten.

Annika drehte sich fragend in seine Richtung.

„Jens“, meinte Laurin leise. „Er sagte, du musst keine imaginären Freunde mehr haben. Du hast echte Freunde. Hast du es gehört, dass er das sagte?“

Mitfühlend sah Laurin ihr in die Augen.

„Annika, ich möchte dir etwas versprechen“, flüsterte er schließlich. „Ich schwöre dir Freundschaft für immer. Ich schwöre es auf alles, was mir heilig ist, und ich schwöre es dir für ein Leben lang.“

Annika weinte und legte ihren Kopf dankbar in seine Schultern.

„Was geschieht jetzt, Laurin?“, fragte sie leise.

Laurin atmete tief durch und schließlich traute er sich, Annika das zu sagen was er ihr so gerne schon längst gesagt hätte.

„Annika… wir werden herausfinden, wer dir diese schrecklichen Dinge angetan hat, und dann machen wir, dass er es nie wieder mit jemandem machen kann, okay?“

Annika sagte nichts. Aber sie spürte, dass Laurin Recht haben musste. Hatte sie sich so oft dagegen gewehrt, war es diesmal anders. Sie lehnte sich einfach an ihn und fühlte, dass Laurin die Wahrheit sprach. Er war da, und er würde ihr helfen. Sie glaubte es nicht nur, jetzt in dieser Sekunde wusste sie es.

DAS FLÜSTERN IM WIND – Kapitel 22: Das Ende einer Freundschaft

Als die ersten Sonnenstrahlen heute herauskamen, war es in der Firma noch sehr ruhig, Nervös saß Laurin in der Kantine, die bereits morgens um 6 Uhr schon ihre Pforten öffnete, und trank einen Kaffee. Annikas Chefin stand in der Ecke und bereitete die Brötchen für das Frühstück der Mitarbeiter vor.

„Herr Foster, geht es Ihnen gut?“, erkundigte sie sich. „Sie sehen heute so abwesend aus.“

Laurin schnaufte.

„Haben Sie Schwierigkeiten? Wir können Ihnen doch helfen“, warf sie nach.

Als sie fertig war, setzte sie sich Laurin gegenüber.

„Es ist wegen Frau Mauren“, gab Laurin schließlich leise zu.

„Haben Sie sich gestritten?“, fragte Frau Perez. „Sie ist ja nun in ihre eigene Wohnung gezogen. Gab es irgendwie Probleme?“

Laurin tapste nervös mit seiner Hand auf dem Tisch herum.

„Ich habe sie gestern besucht, ohne dass dies vorher abgesprochen war“, berichtete Laurin.

„Das ist doch nicht schlimm“, sagte die Chefin. „Ich weiß ja, dass Sie bedeutend älter sind als sie, aber Frau Mauren ist doch eine erwachsene Frau.“

„Wir sind nur Freunde“, bekräftigte Laurin. „Es war nie mehr. Aber in meinen Augen war es das schon.“

Frau Perez lächelte. „Das dachte ich mir“, sagte sie mit ihrem spanischen Akzent. „Weiß Frau Mauren das?“

„Wir haben darüber geredet, ja“, erklärte Laurin. „Und sie hat mir auf ihre liebevolle Weise gesagt, warum eine Beziehung zwischen ihr und mir nicht möglich ist.“

„Kommen Sie damit zurecht?“

„Ich kann mich damit anfreunden“, sagte Laurin selbstsicher. „Es ist nur…“

Frau Perez sah, dass Laurin sehr traurig war.

„Herr Foster, wenn Sie sprechen wollen, können Sie gerne immer zu mir kommen“, erinnerte sie ihn.

„Ich komme damit klar, dass Annika nur Freundschaft sieht“, sagte Laurin. Fast weinte er ein bisschen. „Aber sie verrennt sich total in einen Traum.“

„Jetzt sagen Sie nicht, es geht darin um Herrn Frech“, dachte Frau Perez laut.

Laurin nickte.

„Doch, genau ihn.“

„Oh, mein Gott“, sagte Frau Perez. „Ich dachte, es sei vorbei.“

Laurin wischte sich eine Träne aus seinen Augen.

„Frau Perez, ich soll es eigentlich niemandem sagen“, sagte Laurin. „Aber ich kenne ein großes, schreckliches Geheimnis von Annika. Und ich glaube, dass das der Grund ist, warum sie sich so in diesen Traum verrennt.“

Frau Perez sah Laurin ernst an.

„Ein Geheimnis?“, fragte sie leise.

Laurin zitterte.

„Herr Foster, wenn Sie Annika wirklich helfen wollen, sollten Sie es sagen.“

Ganz langsam stand Laurin auf und lief zur Türe der Kantine hinaus.

Wie sehr er sich gewünscht hätte, dass er es hätte sagen können. Er wusste, es wäre das Richtige gewesen. Aber er tat es nicht.

Mechanisch machte Laurin seine Arbeit bis zur Mittagspause. Er war sehr still, und er reagierte nicht einmal auf die üblichen albernen Späße von Dennis, die er sonst immer gerne mochte.

„Was ist los, Laurin?“, erkundigte sich Dennis, als sie zusammen am Mittagstisch in der Kantine saßen.

Laurin blickte kurz zu Annika hinüber, die rechts in der Spülküche stand. Von dem Platz, an dem Dennis und Laurin saßen, konnte man die Spülküche sehen.

Natürlich merkte Dennis, dass Laurin zu Annika herüber sah.

„Habt ihr Schwierigkeiten?“, fragte er plötzlich mitfühlend.

Laurin sah zu Boden.

Langsam stocherte er mit seiner Gabel in seinem Essen herum. Dann schien es um ihn herum dunkel zu werden. Laurin driftete ab, so wie es schon lange nicht mehr der Fall war. Er wollte es nicht, aber Laurin war plötzlich nicht mehr da. Er hörte nicht mehr, dass Dennis ihn mehrmals ansprach. Er sah nicht Annikas verzweifeltes Gesicht, als sie zu ihm blickte. Er reagierte nicht, als Annikas Chefin erneut kam und Laurin fragte, ob alles okay sei.

Laurin war weg. Ganz weit weg. Irgendwie befand er sich in einer nicht so weit entfernten Vergangenheit. Mitte 30, alleine zu Hause. Er hatte niemanden, außer seine Patentochter Hannah, die er seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen hatte, am damaligen Tag.

Er hatte lange, sehr lange keine Flashbacks mehr. Mit Sicherheit über ein Jahr nicht mehr.

Er hätte es ihr damals beinahe gesagt, an jenem Tag, als sie das letzte Mal bei ihm war. Das war jetzt über ein Jahr her. Warum sie dann ganz plötzlich nicht wieder kam, das wusste er nicht genau.

Sie sagte nichts großartig dazu, und manchmal kam eine Nachricht von ihr auf dem Handy an. Meist schrieb er dann gleich wieder zurück und schrieb „Alles okay, Sweetie“.

Hannah.

Er hätte es ihr beinahe gesagt, aber auch wenn er ihr noch so sehr vertraute, dass sie es verstanden hätte oder seine Ängste und Gedanken verstanden hätte – er hatte sich nie getraut, es ihr direkt zu sagen.

Und jetzt hatte sie sich seit einem dreiviertel Jahr nicht mehr gemeldet. Ob es ihr gut ging?

Er hatte nie den letzten Tag vergessen. Er blieb ihm in Erinnerung wie nichts sonst. Und er fühlte sich so schuldig…

Sie saßen im Café am Tisch. Es war Frühling, aber es war schon so warm, dass man draußen sitzen konnte. Und das Café war bei ihm um die Ecke.

Hannah nippte an ihrer Cola und sah ihn an.

„Was ist los, Sweetie?“, sagte er zu ihr. „Ist alles okay?“

„Das frage ich dich, Laurin“, meinte sie. „Du bist die ganze Zeit schon so still.“

Er wusste es schon. Aber er konnte nichts sagen.

„Mit mir ist nichts“, sagte Laurin leise.

„Das glaube ich dir nicht“, meinte sie. „Du hast doch etwas. Laurin, du kannst mir alles sagen.“

„Ich kann dir alles sagen, Hannah? Bist du sicher?“

Laurin hielt still und brachte keinen Ton heraus.

„Laurin… es läuft doch alles gut, nicht wahr?“, fragte sie. „Du musst dir um nichts Gedanken machen.“

„Ich… ich habe Angst um unsere Freundschaft“, stotterte er.

Hannah schüttelte ihren Kopf. „Nein, hast du nicht. Es muss etwas Anderes sein.“

„Ich…“, begann er. „Ich hatte gestern… eine dieser Erinnerungen.“

„An deine Exfreundin?“

Laurin schüttelte den Kopf.

„An deine Familie?“, wollte sie wissen.

Er sagte nichts.

„Willst du mir sagen, was los war, dass es dich immer so durcheinander bringt?“

Wie? Wie sollte er es ihr sagen? Er konnte ihr doch alles sagen, Hannah war seine Vertraute, Patentochter und beste Freundin. Sie war noch sehr jung, ja, aber sie hatte in ihrem Leben genauso viel Scheiße gehabt wie er in seinem. Sie wusste es, und es war genau das, was Laurin und Hannah doch immer so zusammenhielt.

Warum konnte er es ihr nicht sagen?

„Laurin, wenn du nicht reden willst, ist es auch okay“, sprach sie. „Sag’ einfach Bescheid, wenn du es möchtest. Ruf an oder schreib mir.“

Er sah sie an. „Willst du jetzt gehen?“

„Ich muss“, sagte sie. „Ich bin noch mit Freunden verabredet.“

Sie stand auf und drehte sich dann noch mal zu ihm um.

„Bis bald, Sweetie“, hauchte Laurin traurig.

„Melde dich, okay?“, sagte sie.

Das waren die letzten Worte, die er sie reden hörte.

Er hatte sich nicht bei ihr gemeldet. Er konnte es nicht. Zu groß war die Scham. Zu groß war die Angst, er könnte sie verlieren, weil er sie damit zu sehr belastet hätte.

Laurin wusste es ganz klar und konnte es ihr nicht sagen.

Silvester 2013.

Die Buchstaben auf seinem PC hörten auf zu tanzen, und er sah den letzten Absatz seines geheimen Tagebuchs, welches er schrieb, als plötzlich eine Nachricht auf seinem Handy eintraf.

„Bist du zu Hause? Mach’ mal auf, ich komm gerade nicht an den Schlüssel dran.“

Hannah?

Er drückte auf und lief zur Türe… und zwei Sekunden später sah er sie die Treppe hoch kommen.

„Hannah?“

Tränen schossen in seine Augen. Aber er konnte sie nicht einordnen.

„Laurin“, sagte Hannah lächelnd. „Ich hatte heute nichts vor und dachte mir, dass ich mit dir feiere.“

Laurin gab ihr eine Umarmung, und dann setzten sie sich im Wohnzimmer auf seine Couch.

„Du hast sehr lange nichts von dir hören lassen“, stammelte er dann. „Ist alles okay?“

Sie nickte. „Hast du mich vermisst?“, wollte sie wissen.

„Ja“, sagte Laurin. „Ganz oft.“

„Ich dich auch“, antwortete sie. „Warum hast du nicht mehr geschrieben?“

Er zuckte mit den Schultern, während er eine Träne aus seinen Augen wischte.

Dann umarmte sie ihn wieder.

„Ist doch alles gut“, sagte sie. „Jetzt bin ich ja da.“

„Du bist ganz schön groß geworden“, sagte er zu ihr.

„Ich bin jetzt fast 16“, meinte sie lächelnd.

„Ich weiß“, sagte er. „Ich habe dir damals im März gratuliert, über SMS.“

Sie sah ihn an.

„Ich habe jetzt auch einen Freund“, erzählte sie dann. „Meinen ersten festen Freund.“

„Ah… Hannah, das ist ja toll“, gratulierte Laurin ihr. „Das freut mich.“

„Mit meiner Mutter gibt es nach wie vor oft Terz“, berichtete sie dann weiter. „Du kennst das ja.“

„Warum…“, wollte er ansetzen. Aber sie unterbrach ihn.

„Nichts, worüber man sich aufregen müsste. Ich bin da echt cool mittlerweile. Und sobald ich kann, werde ich sowieso zu Hause ausziehen.“

„Du denkst jetzt schon darüber nach?“, fragte Laurin.

„Ja“, antwortete sie.

Laurin machte dann eine Tüte Plätzchen auf und legte sie in einer Schüssel auf den Tisch.

„Du, das ist total nett, dass du heute vorbei gekommen bist.“

„Du hättest ernsthaft Silvester alleine gefeiert?“, fragte sie.

Er nickte.

Er wollte dann gerade zum Computer gehen, der immer noch an war, und wollte das Dokument, welches noch geöffnet war, schließen und ihn dann ausmachen… aber Hannah kam dann neben ihn.

„Was Neues geschrieben?“, fragte sie. „Kann ich es sehen?“

„Nein“, entgegnete Laurin. „Bitte nicht…“

„Ist es etwas Geheimes? Lass gucken, bitte“, bettelte sie.

Dann schob sie seine Hand vom PC weg und setzte sich an seinen Schreibtisch.

Und sie las. Sie las die Worte, die er zuvor schrieb.

Laurin setzte sich auf das Sofa und hielt sich die Hand vor die Augen, so sehr schämte er sich.

Er hörte sie atmen.

Und als sie fertig war, drehte sie sich zu ihm um.

„Laurin…“, stotterte sie.

Er sah zu Boden und sagte nichts.

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

Laurin auch nicht. Aber er musste es. Er wusste es jetzt, und eigentlich wusste er es schon länger. All diese Erinnerungen, all diese Flashbacks und diese Bilder, die er immer wieder sah… jetzt war ihm klar, warum das so war, und es war ihm schon länger klar.

Er hielt sich die Hand vor Augen, und als er wieder zu Hannah sah, sah er, dass sie an ihrem ganzen Körper zitterte.

„Warum hast du nicht…“, stotterte Hannah fassungslos. „Entschuldige…“, warf sie gleich hinterher.

„Jetzt weißt du es“, weinte Laurin. „Ich hab’s noch keinem gesagt. Sie haben mich oft gefragt. Du, die Psychologen, die auf der Arbeit…“

Sie nahm seine Hand und sagte nichts.

„Sie haben mich alle gefragt, aber ich hab’s keinem gesagt.“ Laurin weinte. „Was hätte ich denn tun sollen? Ich konnte nicht reden. Es war wie eine Sperre, aber wenn es darum ging, was in meiner Familie damals geschehen ist, konnte ich nie reden. Ich habe es verdrängt, habe nicht mehr daran geglaubt, dass es echt war. Ich habe es mir selbst nicht geglaubt. Und als ich mit 25 weggezogen bin, wollte ich es hinter mir lassen. Nie mehr daran denken, das Schlimme nie mehr in meinen Kopf reinlassen. Für immer vergessen.“

Laurin weinte stärker – und Hannah sah ihn nur an. Sie saß da und sah ihn einfach an.

Er konnte nichts weiter sagen. Noch immer nicht.

Und dann klopfte sie ihm auf die Schulter und legte ihren Kopf nah an sein Ohr.

„Sage es einmal laut, dann ist es vorbei“, flüsterte sie.

Laurin weinte.

„Tu es“, forderte sie ihn auf. „Bitte.“

„Ich…“, rief Laurin leise, aber so laut er konnte. „Ich, Laurin Foster… bin zum Sex gezwungen worden… von meiner eigenen Mutter.“

Er weinte und schrie und zitterte.

Und draußen waren Böller zu hören.

„Sie schießen gerade auf sie“, hauchte Hannah. „Vielleicht töten sie sie ja.“

„Ja“, flüsterte Laurin.

„Das ist so eine große Schweinerei, was die mit dir gemacht hat“, stotterte sie, fast noch immer keines Wortes mächtig.

Dann sah sie ihn an.

„Wie geht es dir jetzt?“

Und dann öffnete Laurin seine Augen wieder und wischte sich die Tränen von seinem Gesicht.

„Es wusste keiner“, sagte er. „Nicht mal ich selbst.“

Sie saß da und hörte einfach zu. Sie sagte kein Wort, sie hörte nur, was er sagte.

„Diese ganze übertriebene Fürsorge“, begann Laurin stotternd. „Diese angebliche Fürsorge. Deine Schwester geht bald weg – da war Dorothea gerade 11. Sie geht, und du bleibst schön bei Mama. Du kannst nichts alleine. Du musst jemanden haben, der auf dich aufpasst, dir den Weg weist. Papa hat mir eine Wohnung gekauft, und Mutter sagte nur, ich kann nicht mal alleine einkaufen. Diese verdammte übertriebene Kontrolle, Vorsicht und Behütung – das hat die nur gemacht, weil die das von mir wollte. Weil die mich immer als ihr Spielzeug angesehen hat und mich benutzt hat für ihre Sachen. Für ihren Sex. Ich hab’ nie gewusst, warum sie so war. Später hab’ ich es total vergessen. Ich habe Erinnerungen, wenn sie kamen, nie zugelassen und immer weggestoßen. Weit weg von mir. Das war nicht echt. Das ist mir nicht passiert. Ich bin nicht so ein Schwein, dem das passiert…“

„Du bist kein Schwein“, unterbrach Hannah flüsternd. „Niemand, dem das passiert, ist ein Schwein.“

„Ich weiß“, sagte er daraufhin. „Das wusste ich immer. Ich habe Bücher gelesen, in denen das drin stand. Und es ist mir gesagt worden von Leuten, die eine Vermutung hatten, dass mir so etwas passiert ist. Aber ich glaubte es nicht. Weißt du, wie das ist, wenn man sich schuldig fühlt? Wenn man glaubt, dass das, was mit einem gemacht wird, gewollt und gebraucht war?“ Er sah sie an. „Ich dachte, ich hätte das gewollt, dass sie Jahre lang, auch als ich schon 13 oder so war, bei mir im Zimmer genächtigt hatte. Ich dachte es, weil die das immer gesagt hat. Du kannst ohne Mama nicht schlafen. Du liegst nackt auf deinem Bett, weil du deine Mama vermisst. Du brauchst deine Mama. Scheiße, ich hatte das geglaubt, und ich wollte nicht, dass das jemand weiß.“

„Du bist nicht Schuld“, versuchte Hannah ihn zu beruhigen.

„Was hätte ich denn tun sollen?“, weinte Laurin leise, als er seinen Kopf in ihre Schulter legte. „Was hätte ich denn tun sollen?“

Minuten saßen sie so da.

„Aber jetzt ist es vorbei“, flüsterte Hannah

Er sagte nichts. Er nickte nur.

„Warum hast du dich nicht gemeldet?“, fragte sie leise. „Du hattest fast unsere Freundschaft aufgegeben.“

„Ich konnte nicht…“, stammelte Laurin.

„Ich hatte gedacht, dass du nichts mehr von mir wissen wolltest…“

„Es tut mir so Leid…“, stammelte er.

„Es ist okay“, flüsterte sie, während sie ihm über die Hand strich. „Du bist und bleibst mein Patenonkel. Auch wenn wir uns mal eine Weile aus irgendwelchen Gründen nicht sehen.“

„Du auch meine Patentochter“, sagte er. „Meine beste Freundin.“

Sie sah ihn an.

„Sagst du mir jetzt immer alles?“, fragte sie dann.

Laurin nickte.

„Ich dir auch“, wisperte sie.

„Herr Foster?“

Frau Perez und Annika saßen plötzlich alleine neben ihm. Die Pause war lange schon vorbei, aber das hatte Laurin nicht bemerkt. Zu sehr hing er in diesen Gedanken an den Tag fest, an dem er es seiner Patentochter Hannah zum ersten Mal erzählt hatte.

„Nein, Annika“, stotterte Laurin leise. „Das lasse ich nicht zu, dass du das mitmachen musst, was ich Jahre lang mitgemacht habe. Ich lasse nicht zu, dass du von deinen Erinnerungen aufgefressen wirst, weil du glaubst, schweigen zu müssen und es niemandem erzählen kannst.“

„Herr Foster, was ist los?“, fragte die Chefin.

Annika zitterte.

„Frau Perez“, hauchte Laurin. „Ich habe seit einiger Zeit wieder Erinnerungen aus meiner Vergangenheit. Schlimme Erinnerungen. Es war ausgestanden, aber durch Frau Mauren kam es wieder hoch.“

„Finn…“

„Ich bin aufs Übelste missbraucht worden“, stotterte Laurin leise. Er weinte. „Von meiner eigenen Mutter“, warf er nach.

Annika hielt sich die Augen zu und weinte heftig.

Frau Perez sah stumm in ihre Augen.

„Frau Perez, es ist Annika etwas ganz Ähnliches geschehen“, sagte Laurin. „In ihrer frühesten Kindheit. Es weiß niemand. Sie sagte, ich wäre der Erste, dem sie es gesagt hat. Und ich weiß von ihr, dass dies der Grund für ihre Persönlichkeitsspaltung ist.“

Annika stand langsam auf und rannte schließlich aus dem Raum hinaus.

„Ich gehe zu ihr“, sagte Frau Perez. „Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Foster. Sie haben das Richtige getan.“

Laurin weinte.

Annika war weg. Laurin zweifelte sofort und wünschte sich jetzt, er hätte es nie gesagt. Aber das musste er doch. Es hätte Annika sonst irgendwann aufgefressen.

Was hatte er nur getan?

Am Nachmittag saß Annika mit leerem Blick in der Raucherecke, als Laurin zu ihr kam.

„Annika?“

„Ihr seid wieder da?“

„Ich ja“, sprach ein Mädchen von vielleicht 8 oder 9 Jahren.

Annika sah zu ihr herüber. Wo kam sie plötzlich her? Warum schien es so zu sein, dass Laurin sie nicht wahrnehmen konnte?“

„Lena, wo ist Jana?“

„Sie ist weg“, sagte Lena leise. Ihr Blick sah traurig aus.

„Wo ist Jane?“

„Jane?“ Laurin blickte auf Annika.

Annika schien durch seine Augen hindurch zu sehen.

„Jane ist auch weg. Sie kommen nicht wieder. Harry ist schon lange gegangen. Du hast keinen Schutz mehr.“

„Was machst du dann hier?“

Stumm hörte Laurin Annika zu, die leise vor sich hin sprach.

„Ich musste kommen, weil du Angst hast. Du hast wieder Angst, Annika. Und weißt du, wovor?“

Annika weinte.

„Annika“, hauchte Laurin. „Es tut mir Leid…“

„Laurin“, stammelte Annika. „Es ist vorbei. Verstehst du? Es ist vorbei. Wir werden nicht mehr miteinander reden. Wir sind nicht länger Freunde.“

Laurin stand langsam auf, wischte sich ein paar Tränen aus den Augen und lief dann wieder in die Werkhalle zurück.

DAS FLÜSTERN IM WIND – Kapitel 21: Tiefes Schweigen

Die Vögel zwitscherten leise, als die ersten Sonnenstrahlen am frühen Morgen Annika zum Blinzeln bringen ließen. Ruhig lag sie in ihrem Bett, eingehüllt in ihre Decke. Sie wollte erst gar nicht ihre Augen öffnen, aber der heutige Sonntag war so ein besonderer Tag. Nicht nur, dass es endlich Frühling zu werden schien, auch wenn es erst Ende Februar war, es war auch der Tag, an dem ihre eigentliche Geburtstagsüberraschung wahr werden sollte. Seit Monaten hatten ihre Eltern es ihr versprochen, und jetzt sollte es wirklich geschehen. Heute, Ende Februar 2018, sollte Annika im Mehrfamilienhaus, welches ihrem Vater gehörte, eine eigene Wohnung bekommen. Heute sollte sie umziehen und ab sofort endlich ganz alleine wohnen dürfen.

Annika wurde vergangene Woche 20 Jahre alt. Den Wunsch, für sich alleine zu leben, wenn auch mit einer wöchentlichen Betreuung, hatte Annika schon seit sie 18 war. Aber damals ging es ihr noch zu schlecht, um als stumme Jana ihren Eltern dies begreiflich zu machen. Jetzt, zu ihrem 20. Geburtstag, wurde dieser Wunsch aber wahr.

Die Wohnung war bereits bezugsfertig. Schon gestern kamen die Möbelpacker und räumten Annikas gesamtes Hab und Gut in die neue Wohnung. Einzig ihr Bett und ein Schrank sollten heute morgen erst aufgestellt werden.

Jetzt, nach der letzten Nacht in ihrem alten Zimmer, war Annika wach geworden und stand langsam aus ihrem Bett auf.

Mit einem Lächeln im Gesicht schlenderte sie zur Kommode, nahm ihre Klamotten, die sie sich schon am Vorabend zurecht gelegt hatte, und zog sich an.

Annika ging es wirklich seit einigen Monaten besser. Nicht nur, dass ihre geflüsterten Selbstgespräche mehr und mehr abnahmen, auch die Freundschaft zu Laurin hatte sich intensiviert, und durch ihn kam sie auch in Kontakt zu einigen anderen Mitarbeitern in der Firma. Sie redete zwar offiziell noch immer nicht, aber manchmal antwortete sie, wenn jemand sie etwas fragte oder jemand sie ansprach.

Laurin freute sich über Annikas Entwicklung sehr. Am Meisten freute ihn, dass sie schon seit mehreren Monaten nicht mehr über negative Gedanken redete.

„Du kannst mir immer sagen, wenn dich etwas bedrückt oder du darüber reden willst“, sagte er immer zu ihr. Aber in den letzten Monaten nahm sie dies immer weniger wahr. Eigentlich sprach sie selten über das, was sie erahnte, was ihr geschehen war. Manchmal wusste sie es tatsächlich nicht, und dann fragte sie Laurin, was er meinte. Manchmal redete sie sehr detailliert darüber, fast so wie Harry, als er es ihr das erste Mal sagte, damals, bevor er sie für immer verließ.

Es war nicht so, dass sie es vergaß, wie Laurin andererseits trotzdem hoffte. Es war so, dass ein Teil von ihr damit irgendwie zurecht kam, und ein anderer Teil wusste es wirklich nicht mehr. Diese Schutzmaßnahme hatte Annika aus ihrer Kindheit aufgehoben, und noch heute half es ihr manchmal sehr.

Sichtlich aufgeregt saß Annika nun auf der Veranda und sah durch das Fenster den Möbelpackern zu, die ihren Schrank und das Bett aufbauten. Weil es ein Wasserbett war, dauerte das wohl einige Stunden.

„Annika“, hörte sie plötzlich eine leise Stimme. „Du musst nach Hause.“

„Nein, ich muss noch nicht nach Hause“, antwortete sie sich selbst.

„Es ist schon abends“, ermahnte sie sich. „Die Sonne geht bald unter.“

„Aber zu Hause ist niemand. Warum soll ich dorthin?“

„Hast du schon etwas gegessen seit heute Mittag in der Schule?“

Annika schüttelte ihren Kopf.

„Siehst du?“, meinte sie daraufhin. „Zu Hause bekommst du etwas.“

„Du meinst, ich muss mir etwas machen“, sagte Annika. „Es ist keiner da, der mir etwas zu essen macht.“

„Was haben wir denn da?“, sagte sie mit einer leicht verstellten Stimme.

„Ich kann noch nicht kochen, Ich bin erst neun Jahre alt“, antwortete sie sich.

„Fast zehn“, korrigierte sie sich selbst. „Du kannst kochen.“

„Ich habe keinen Hunger.“

Annika blickte sich um und sah die geheimnisvolle junge Frau neben sich auf der Veranda sitzen.

„Jana“, sagte sie leise. „Ich bin jetzt erwachsen. Ich bin nicht mehr zehn Jahre alt.“

„Das weiß ich, Annika“, antwortete Jana.

„Sie können dich nicht sehen, richtig?“, dachte Annika nach.

Jana nickte.

„Ich habe imaginäre Freunde“, sagte Annika leise. „Ich habe nicht nur eingebildete Freunde, ich bin mehrere.“

„Du weißt, was du hast?“, wollte Jana sicher gehen.

Annika schaute Gedanken verloren in der Gegend herum.

„Sie nennen es eine massive Persönlichkeitsstörung“, hauchte sie. „Ich sage lieber eine Persönlichkeitsspaltung. Wir sind mehrere.“

Jana lächelte Annika zu. „Eigentlich bin nur noch ich übrig“, entgegnete sie. „Harry ist schon lange weg, und Lena…“

„Wer ist Lena?“, wollte Annika wissen.

„Dein Angstkind“, sprach Jana. „Harry hatte es dir erklärt.“

„Ich sehe oder höre sie nicht oft“, dachte Annika nach.

„Das ist eigentlich ein gutes Zeichen, Annika.“

Als Annika sah, dass Jana sehr traurig schaute, drehte sie sich zu ihr.

„Jana, gibt es da etwas, dass du mir sagen willst?“, wollte sie wissen.

Jana schnaufte aus. „Ich sage es nicht gerne, aber wahrscheinlich…“ Sie sprach nicht weiter.

„Du wirst gehen, nicht wahr?“, sagte Annika leise.

Jana nickte.

„Du bist die letzte meiner imaginären Freundinnen, die mir geblieben ist“, flüsterte Annika nachdenklich. „Ich möchte dich nicht verlieren.“

„Annika, es ist anders als du denkst“, erwiderte Jana. „Es ist nicht so, dass ich dich alleine lassen will. Wir wussten, dass es eines Tages geschehen würde. Wir wussten nicht, wie es geschehen würde, aber wir glauben, jetzt ist es soweit.“ Jana sah Annika tief an. „Annika, du benötigst uns nicht mehr. Niemanden von uns, auch mich nicht.“

„Warum?“, beschwerte Annika sich.

Jana nahm sie liebevoll in den Arm. „Ist es dir nicht aufgefallen, wie selten du in letzter Zeit in Lost City warst?“, fragte sie. „Annika, weißt du, woran das liegt? Du gesundest. Deine multiple Persönlichkeitsstörung wird von Mal zu Mal besser, jeden Tag. Und deine realen Freunde, die du nun hast, tragen einen großen Teil dazu bei.“ Jana schnaufte tief aus. „Eines Tages wirst du sogar dein Trauma überwinden.“

Verwundert blickte Annika Jana an.

„Ein Trauma?“

„Das, was dir in deiner Kindheit geschehen ist“, erklärte Jana. „Diese schlimmen Dinge, die dir angetan wurden.“

„Was soll mir angetan worden sein?“

Jana sah zu Boden.

„Es wird oft noch diese Momente geben, in denen du dich daran nicht erinnern kannst. Aber du hast einen realen Freund, mit dem du darüber sprechen kannst. Du darfst es, Annika. Du hast nie etwas Schlimmes getan. Du bist es nicht Schuld, und Laurin weiß das.“

Annika dachte nach.

Es war Abend geworden, als Jana immer leiser wurde und schließlich ganz verstummte. Annika saß alleine auf der Veranda, auch als die Möbelpacker längst weg waren.

Jana.

Ob sie wieder käme? Oder war sie für immer weg?

Annika wollte nicht ohne sie leben, nicht ohne ihre imaginären Freunde, nicht ohne ihre anderen Ichs. Aber in diesem Moment genoss sie es. Lächelnd stand sie auf, griff in ihre Tasche und holte den Schlüssel zu ihrer Wohnung heraus, die an das elterliche Haus angrenzte.

Schritt für Schritt tapste sie die Treppen hoch und schloss schließlich auf. Aber schon im gleichen Moment hörte sie eine männliche Stimme, die sehr real klang.

„Hey, Jane“, grüßte Laurin sie, der plötzlich auf den Treppenstufen stand.

„Laurin?“, fragte Annika erstaunt. „Was machst du denn hier?“

„Ich wollte gerne der Erste sein, der dich in deiner neuen Wohnung begrüßt.“

Annika musste ein bisschen schmunzeln. „Komm besser schnell rein“, sagte sie. „Wenn meine Eltern dich sehen, dann ist die Hölle los.“

Annika bat Laurin daraufhin in ihr Wohnzimmer und machte ihm eine Flasche Eistee auf.

„Danke“, sagte er, als sie ihm die Flasche gab.

„Es ist so aufregend“, lächelte Annika.

Und dann lachte sie und klatschte in ihre Hände. Als sie sich wieder beruhigt hatte, sah sie Laurin an, der das ja von ihr kannte.

„Also, was wirst du als Erstes in deiner neuen Wohnung tun?“. Fragte Laurin sie.

„Ich denke, ich sollte etwas kochen.“

„Großartige Idee“, ergänzte Laurin.

„Du bekommst nichts“, lachte Annika.

Laurin musste auch lachen. „Es ist schon okay“; sagte er. „Ich bin nicht hungrig.“

Annika machte schließlich ihren PC an und stellte einen Videostream mit Musik auf Dauerschleife.

Still, tief entspannt und ohne etwas zu sagen saßen Annika und Laurin auf dem Sofa.

Annika musste nichts sagen. Laurin bemerkte auch so, dass sie sich momentan sehr wohl fühlte, fast frei von allen negativen Gedanken.

„Wirst du eine Einweihungsfete geben?“, fragte er schließlich.

Annika verneinte.

„Ich hoffe aber, dass er vorbei kommt.“

Laurin blickte in ihre Augen.

„Du meinst Jens?“, wollte er wissen.

„Er ist mein Freund“, erklärte Annika.

„Was?“ Laurin erschrak. „Seit wann denn? Das hast du mir noch gar nicht gesagt.“

Geheimnisvoll sah Annika ihn an.

Laurin ahnte es. Eigentlich wusste er es sogar. Aber er hatte gehofft, dass dies nicht soweit kommen mochte.

Annika war nicht wirklich Jens‘ Freundin. In ihren Träumen war sie es. In mehreren Gesprächen, dann wenn es meist über ihn ging, versuchte Laurin Annika zu helfen, Jens näher kennen zu lernen. Jedoch zeigte Jens sich eher desinteressiert. Er mochte Annika als Kollegin schätzen, aber mehr war da nicht. Laurin wusste das, zumal Jens das beiläufig in einem Gespräch schon betonte, als Laurin versehentlich heraus gerutscht ist, dass Annika ihn wohl mag.

In Annikas Augen gab es jedoch viel, viel mehr Hoffnung als es in der Wirklichkeit war. Annika redete sich ein, dass Jens bereits ihr Freund sei. Hin und wieder nannte sie es sogar beim Namen und nannte ihn „ihre“ Beziehung.

„Es stört mich etwas, dass einige in der Firma denken, dass wir beide zusammen wären, Finn. Du und ich“, hatte sie neulich zu ihm gesagt. „Es stört mich, dass sie denken, dass du mein Freund wärst, weil sie nicht wissen, wer es wirklich ist.“

Laurin wusste sich keinen Rat. Er konnte Annika doch nicht so einfach sitzen lassen mit ihren Sorgen. Ja, es stimmte, die Gedanken über Jens hatten den Vorteil, dass Annika immer weniger an ihr Trauma aus der Kindheit dachte. Laurin merkte dies und unterstützte ihre Ambitionen Jens betreffend immer. Dabei war es sogar nicht immer leicht, auch über seine eigenen Gefühle Annika gegenüber hinwegzusehen. Er hatte ja versprochen, dass er sie in Freundschaft umwandeln möchte.

Aber jetzt nahm es eine surreale Form an. Er spürte, dass Annika sich immer mehr in diesen Traum verrannte.

„Ihr seid zusammen?“, hakte Laurin stotternd nach.

Annika sah ihn ernst an. „Ich wusste, dass du das nicht gut heißt“, meinte sie.

„Ach, Unsinn, Jane“, sagte Laurin.

„Und höre auf, mich Jane zu nennen“; warf sie angesäuert nach. „Ich heiße Annika. Ich spreche wieder. Jane ist nicht mehr da. Jana war immer stumm, aber ich brauche Jane nicht mehr um sprechen zu können. Ich rede.“

„Annika, es ist doch okay“, sagte Laurin hilflos. „Ich freue mich doch für dich. Sei bitte nicht wütend.“

„Du bist eifersüchtig“, stellte Annika klar.

„Das bin ich nicht“, sagte Laurin mit forscher Stimme. „Wir sind doch nur Freunde. Ich habe dir versprochen, dass ich meine Gefühle…“

„Ich weiß“, unterbrach Annika ihn. „Du wolltest sie in Freundschaft umwandeln. Aber hast du das? Hast du das wirklich?“

„Annika, du hast so oft in letzter Zeit von ihm geredet“, gab Laurin ihr zu bedenken. „ Aber ich sah euch nie zusammen sprechen.“

Annika machte eine wegwerfende Geste.

„Annika“, begann Laurin erneut. „Ich will dir nichts Böses. Ich kann es nur langsam nicht mehr hören, sorry.“

Annika sah ihn an. „Oh“, machte sie nur. „Und worüber sollen wir dann reden?“

„Vielleicht über die wichtigen Dinge?“, hakte Laurin ein.

„Wichtige Dinge?“, sagte Annika.

Laurin schnaufte.

„Annika, ich kann das nicht mehr“, sagte er. „Es ist mir zu schwer. Ich schaffe es nicht alleine. Vielleicht sollten wir wirklich überlegen, jemanden hinzuzuziehen, der Ahnung hat und uns helfen kann.“

„Ich kann mir denken, was du mit wichtige Dinge meinst“, sagte sie leise. „Aber ich weiß nicht, was du meinst.“

„Jana wusste es“, entgegnete Laurin. „Jane wusste es glaube ich auch.“

„Ich will nicht darüber reden.“

„Annika, wie willst du es überwinden, wenn du nicht darüber redest? Wer war es, Annika? Wer hat das mit dir gemacht, was dir in deiner Kindheit geschah? Annika, bitte.“

Annika lief zur Türe.

„Du gehst jetzt besser“, forderte sie Laurin auf, als sie die Türe öffnete.

„Entschuldige, ich wollte dir nicht vor den Kopf stoßen“, meinte Laurin. „Aber ich bin mir nicht sicher, dass du unsere Freundschaft noch willst.“

„Richtig so“, wurden beide plötzlich von einer tiefen männlichen Stimme überrascht.

Und auf einmal stand Annikas Vater in der Türe.

„Sie sind dieser bedeutend ältere Mann, der Arbeitskollege von Annika, richtig?“, sagte er zu Laurin.

„Ja, das stimmt“, sagte Laurin. „Aber Sie denken offenbar etwas Falsches von uns.“

„Es gibt kein Uns“, sprach der Vater streng. „Wir möchten nicht, dass Sie Annika hier besuchen. Auf der Arbeit haben wir leider keinen Einfluss auf ihre freundschaftliche Beziehung, aber wenn Annika sagt, dass sie diese Freundschaft nicht will, dann sollten Sie sich daran halten.“

„Herr Mauren“, begann Laurin. „Leider ist das Problem ein ganz Anderes.“

„Schweig“, sagte Annika. „Sei still.“ Sie weinte ein bisschen, aber das schien nur Laurin zu merken.

„Sie gehen besser“, forderte ihn nun auch der Vater auf.

Und ohne ein weiteres Wort lief Laurin aus Annikas Wohnung hinaus und ließ Annika nun alleine.

Das hatte er doch nicht gewollt. Er wollte keinen Streit mit ihr provozieren. Er wollte nicht, dass sie sauer würde. Und er wollte nicht, dass sie wegen ihm möglicherweise nun Ärger bekäme.

Aber Laurin wusste sich keinen Rat mehr, so sehr zweifelte er daran, dass es Annika wirklich besser ging. Auch wenn er sah, dass sie auf der Arbeit immer offener auch zu anderen Menschen wurde. Auch wenn sie gelassen und relaxt zu sein schien. Laurin wusste, dass dies nicht wirklich war. Er wollte ihr doch nur helfen.

Annika machte ihre Anlage an und hörte den weiteren Abend lang gefühlvolle Musik. Sie dachte fest an Jens. Sie sah ihn vor sich, so als wäre er da.

„Jens, ich muss dir etwas sagen“, flüsterte sie leise in den Raum hinein. „Ich liebe dich.“